Netsuke von echten Meistern

DIE UNHARMLOSIGKEIT

Ein schon schrecklich naiver Zug so mancher Leute, die auch in der Welt der Netsuke mitmachen wollen, ist deren Beflissenheit, in jedem Netsuke (egal ob alt, unecht, aus Hongkong oder von sonstwo her) etwas gar so Liebreizendes zu sehen, eine Süßlichkeit, ein Bonbon, eine Mozartkugel (was mitunter in Form, Farbe und Größe hinkommen kann). Ein elfenbeinernes Kiecherding, ein miniaturisierter Gartenzwerg. Nicht daß ich Angst hätte, diese Leute würden bald alle Netsuke-Welt überschwemmen. Nein, auch will ich kein Weltverbesserer werden. Solche Unart gibt es nun einmal, aber gerade bei den japanischen Netsukeist sie besonders deplaziert und trifft weit neben den Kern. Sicherlich sind manche sehr spät entstandene Netsuke in gewisser Hinsicht Ausnahmen. Sie wurden aber bereits eigens für diesen bestimmten Geschmack gefertigt, nämlich um es zu pauschalieren – für kitschig veranlagte Amerikaner, also für den Export. Man könnte auch von der anderen Seite her argumentieren und sagen, dass sich die Kunst der Netsuke ab einem bestimmten Zeitpunkt aufweichen ließ. Man vergesse aber nicht den direkten Zusammenhang mit dem so schnellen Ende vieler davor eiserner Traditionen in Japan, einst von der Samurai-Moral zusammengehalten, über Nacht geborsten, ins Nichts zerfasert. Für einige ist diese historische Zeitmarke zugleich auch das Ende der Netsuke-Kunst; der klassischen gewiß, obwohl wiederum nicht restlos. Nach acht größeren Netsuke-Ausstellungen und mehreren kleineren habe ich weit über 1500 Netsuke beschrieben und besehen. Mit der Zeit wurde ich immer offener gegenüber der schon von den Netsuke selbst ausgehenden Forderung, diese Kunst chronologisch einfach durchlaufen zu lassen, sogar bis heute herauf. Vor allem für den Newcomer möchte ich einschieben, daß die große schöpferische Hauptperiode der Netsuke-Kunst ungefähr in der Mitte des 18. Jh. Beginnt und sich bis zum Ende der sogenannten Edo-Zeit, das ist 1868, ausdehnt. Dieses Datum war für Japan eine unerhört markante Zäsur. Die einst so stark und bis in jede einzelne Privatsphäre hinein präsente Militärdiktatur des Shongunates war zerbrochen, nicht absolut unvermutet, aber doch eher urplötzlich. Die Amerikaner hatten mit den geschichtsberühmt gewordenen „Schwarzen Schiffen” des Commodore Perry die Offnung japanischer Häfen erzwungen. Das war ein vorwiegend handelspolitischer Kraftakt, für Japan war es der Abbruch einer Lawine, die das Shogunat mit sich riß. lm alten Japan residierte der Kaiser, politisch machtlos, in Kyoto. Das Bakufu, die Militärregierung, hatte im politischen Epizentrum – in Edo – ausnahmslos alle Zügel in den Händen. Als der Umsturz kam, wechselte der Kaiser sogleich von Kyoto nach Edo, taufte es um in Tokyo, „Hauptstadt des Ostens”, und übernahm die Regierungsgewalt. Die neue Meiji-Zeit, von 1868 bis 1912, ist nach dem Kaiser Meiji benannt. Das Ende der Edo-Periode, in deren spätem Teil weitgehend die Netsuke-Kunst liegt, ist aber
lange noch nicht im gleichen Atemzug das Schaffensende einer Vielzahl von Netsuke-Meistern (man nennt sie Netsukeshi), die über dieses Datum hinaus lebten. Das würde heißen, Geschichte mit dem Lineal zu fabrizieren. Es ergaben sich für die Netsuke-Kunst sicherlich eine ganze Reihe von schweren Torpedo-treffern. Einer war das Verlöschen des Samurai-Standes, dieser orthodoxen Gesittung, und mit ihm verschwanden die lnro, und auch die Obi und Kimono. Der zweite große Torpedo waren westliche Zigaretten, der Tod für die skurrile japanische Pfeife samt allem Zubehör. Ihr Hinfälligwerden war ein starkes Argument gegen die Netsuke. Die Nr. 123 unseres Kataloges zeigt ein prächtiges Tonkotsu (sogar noch mit Tabak darin) von Kaigyokusai Masatsugu. Es ist zu bezweifeln, ob er -der bis 1892 lebte – dieses Stück in der Meiji-Zeit noch gemacht hätte. Dieser Künstler ist überhaupt ein allerbestes Beispiel dafür, wie ein Genie (vielleicht eine Voraussetzung) über so einschneidende Geschichtsdaten hinübergleitet, man erinnere sich auch an Zeshin. Aber neben diesen beiden Namen gäbe es natürlich noch viele mehr zu nennen.lronischerweise fing die Verwandlung der Netsuke zu viel harmloseren Gesichtern gerade und genau mit dem genannten Perry an. Mit einem seiner Seeleute, wie UR (siehe Literatur im Anhang) berichtet. Dieser hatte an den Japanern sofort das Rauchzeug entdeckt, welches sie alle an ihren Obi trugen, von einem Gürtelknebel, dem Netsuke, daran festgehalten. lm konkreten Fall war es ein Masken-Netsuke, das den Amerikaner faszinierte, so etwas hatte er noch nie gesehen. Der Japaner war völlig verschreckt, er dachte, es ginge ihm an den Kragen. Später jedoch wurde der Tausch perfekt und aus ihnen (dazwischen wanderte der Japaner wegen illegalen Handels ins Gefängnis) eifrig tätige Geschäftspartner, die einen Exportbetrieb mit Netsuke und Sagemono eröffneten. Ab diesem Punkt begann die gewisse Tragödie, daß japanische Künstler für den Export, für die Amerikaner und schnell für deren Geschmacksnuancen arbeiteten. Das ist sicher nichts unfaßbar Arges, es gibt so manche hübsche und amüsante Netsuke, aber die sind doch immer weitaus mehr von der harmloseren Sorte. Da gibt es kein Tremolo mehr aus der Tiefe der Mythologie, an starrender Dämonie oder irrsinnigem
Spuk. Aber gerade darin liegt eine der Hauptattraktionen der Netsuke-Kunst. Was uns etwa so sehr an den urigen Perchtenauftritten in den Alpen zu fesseln weiß, das bieten auch die Netsuke, sogar völlig ähnlich. Denken Sie nur an die Masken der Dämonin Hannya, wie in Nr. 46. Jedoch – und darin besteht der bedeutende Unterschied – ins perfekte Kleine umgewandelt. Die Netsukeshi wurden mit der Zeit – das war ein evolutionärer Prozeß – zu genialen Meistern der Miniaturisierung. Nicht um ihrer selbst willen, denn das wäre bald ins Kitschige
ausgeglitten, sondern vor allem wegen der Notwendigkeit, in winzigen Formaten und gut abgerundet arbeiten zu müssen. Der kleinere Gürtelknebel war praktischer und man konnte bei Gesellschaften außerdem Leute über die Akribie des Schnitzers ins Staunen versetzen. Aber man glaube nicht, daß dieser Beruf vielleicht einfach war, es waren harte Bedingungen gegeben. Beste Augen und große Geschicklichkeit mit den Händen, einem Juwelier vergleichbar, waren Voraussetzung. Dazu kamen noch diffizilste Ansprüche bei anatomischen und physiognomischen Hürden, derer wohl unzählige waren. Wir müssen bedenken, wie perfekt einerseits und wie lebendig-realistisch zugleich so viele Netsuke gelöst wurden. Wirklich individuelle Gesichtszüge bei der Kleinheit noch wiederzugeben (und oft spielen sie dramaturgisch eine ganz genau definierte Rolle), ist ohnehin wie ein Wunder. Zu diesen Ausdrucksschattierungen kommen noch die Kulminierung in der Expression oder das sinnvolle Spiel im Faltenwurf, die Dramaturgie der Bewegungen usw. ln dieser Beziehung darf man sich auf ganz normaler Ebene bei den Netsuke umschauen und braucht keinesfalls in Extreme zu gehen. Oder ist es ein Extrem, wenn die kleine Schnecke auf dem Holzschaff in Nr. 81 nicht nur kriecht und lebt, also Kreatur ist, sondern sich in einem konzertierten System von Spannungskoordinaten fortbewegt, und daneben sogar noch vier Fühler hat. Das ist die Unharmlosigkeit, die in diesem ohnehin gewiß poetisch-harmloseren Netsuke bereits so ernsthaft fühlbar wird. In aber fast jedem guten echten alten (wie gesagt, es gibt Ausnahmen jüngerer Natur) knistert es vor immanenter Spannung, vor recht rätselhafter Verästelung des Inhaltes, tief in Hintergründigkeit hinein. Mit einem beispielhaften Motiv möchte ich die Anhänger der Harmlosigkeitslehre desperat machen. Man findet dieses Beispiel
in Nr. 167 und es ist ein sehr typisches für diese Abgründigkeit und gleichzeitig der doch mehr vordergründigen humoresken Vernetzung, die schon wie ein Zwang war (und nicht ohne Zusammenhang zur damaligen politischen Lage). Sehen Sie sich dieses Netsuke an, Sie werden vielleicht sagen ein lieber Hase, womöglich aus einem Märchen (halt nicht von den Brüdern Grimm, obwohl es denen an Unharmlosigkeiten nicht mangelte). Ist es nicht merkwürdig, wie der
„Hase” einen Hut über den Mann stülpt? Ich sage lhnen, er ermordet ihn gerade mit seinem Hodensack. Der „Hase” ist eine unwirkliche Bestie, nämlich ein Tanuki (er wird auch Dachsgeist genannt, aber das ist schon beinahe peripher). Für die gewisse Bodenlosigkeit in der Netsuke-Kunst ist er ein Paradebeispiel. Er ist die Stelle, wo sich der vorpräparierte und mit Griffen bepflasterte Klettersteig in Nichts auflöst, wo die Spuren realitätsbezogenen Wissenwollens von obskurer Dunkelheit umfangen werden. Das ist das so prickelnd unharmlose Schauern, das sich auftut und der Tanuki-Punkt jene Grenzlinie, jenseits welcher sich eine Terra incognita öffnet, ein Reich des ganz lrrationalen. Dieses, gepaart mit der großen künstlerischen Begabung so vieler Netsukeshi und ihrem Sinn für vielseitigen Humor, ist jenes Ereignis in der Kunst der Netsuke, das den Connaisseur
viel beschäftigt und unterhält.

DIE GRENZENLOSIGKEIT

lch gehe hier von einem ganz großen Gegensatz aus (möchte aber auch vorausschicken, daß ich zwei recht verschiedene Arten der Grenzenlosigkeit im folgenden meine). Keiner, der sich mit Netsuke-Kunst zu beschäftigen anfängt, hat selbst eine nur vage Vorstellung, was alles dahintersteckt und ihn mit der Zeit in Ungeahntes verwickeln kann. Da dieses Ausmaß eine kleine ungeheuerliche Dimension besitzt, darf es mit Fug und Recht eine „Grenzenlosigkeit” genannt werden. Die Netsuke sind in der Mehrheit doch recht abnorm klein (bei wirklich größeren Netsuke empfindet man es bereits als unanständig, sich derart aufzublähen; und zu bewundern sind nur jene Magier, die munterste Beweglichkeiten ganz locker in kleinste Proportionen transformierten). Die Antagonismen beginnen stufenweise, zuerst einmal die vielen Motive, dann die bereits wimmelnden Netsukeshi, deren Familien, Schulen, Adoptionen und Genealogien verwirrend sind, schließlich aber das wie endlos erscheinende Gewebe panasiatischer Verflochtenheit. Es ist maßlos, undurchschaubar, es verträgt einen wie Flugsamen im Wind, aber es ist ebenso anziehend. Das Netsuke, isoliert betrachtet, abgenabelt von den Zusammenhängen, ist gewiß in einigem seiner Unharmlosigkeit
beraubt. Japan ist ein geradezu klassisches Land für das Zusammentreffen von Einflüssen, trotz oder wegen seiner lnsellage; hierin ist es eventuell mit England vergleichbar. Die Japaner besaßen und besitzen es heute noch in einem ungewöhnlichen Ausmaß, hellhörig und instinktiv zu sein, für ihre eigene Entwicklung wertvolle, bereichernde Dinge aufzuspüren, ihnen Tür und Tor zu öffnen, um sie dann, sobald sie im Land sind, weiterzuentwickeln und sie ganz zum eigenen Nutzen zu verwerten. Die alte heimische Religion Japans wird Shinto genannt. ln der Netsuke-Kunst gibt es sehr viele Zusammenhänge mit diesem Shinto, seiner Mythologie und seinen animistischen Zügen. Volkstümlichstes Bildnis und eigentlich recht vieldeutiges Netsuke-Motiv ist die Okame, eine Shinto-Göttin der ersten Stunde und ein Urbild kultisch zu deutender Sinnlichkeit. Der Shinto alleine genügte den Japanern jedoch nicht. Als der Buddhismus, fast ein halbes Jahrtausend nach dem historischen Buddha Shakyamuni, den Weg seiner kontinentalen Ausbreitung antrat und sämtliche Länder ab Indien Ostwärts, auch die lnselstaaten, erfaßte, blieb Japan von ihm vorerst noch unberührt. Erst im 6. Jh. begann man in Japan seine Reize zu entdecken und seine erste Glanzzeit entfaltete sich wenig später, in China blühte da gerade die klassische Epoche der Tang. Der Buddhismus war in seinem Wesen tolerant und aufnahmefähig, er arrangierte sich in China mit der komplexen Philosophie des Dao und sogar mit konfuzianischer Ethik und daran geschult danach mit dem japanischen Shinto.
Was will ich nun in Zusammenhang mit den Netsuke damit sagen? Wenn wir es mit Motiven aus der Legendenwelt, aus der Mythologie zu tun haben, dann spielt im japanischen Netsuke oft das Chinesische, dieser große Kulturraum eine maßgebliche Rolle, denn der Buddhismus trug mit seiner breiten Strömung unvorstellbar viel davon nach Japan hinüber und verwebte es dort sogleich, ganz
zusammenhänglich mit seinen synkretistischen (das „Zusammenwachsen”) Eigenschaften zu einem dicht gesponnenen Stoff. Nun ist aber der Ursprung des Buddhismus in Indien und wenn wir uns auf so manche ganz harmlose Spurensuche in Netsuke-Hintergründe begeben, dann geraten wir immer wieder unverhofft entweder an eine undurchsichtige Grenze oder in jene Sphäre der Grenzenlosigkeit. Weil es uns so weit zurückträgt, mitunter sogar bis über die ikonographischen Quellen des Buddhismus hinaus. Dagegen muß aber festgestellt sein, daß es in der Netsuke-Kunst so besonders viele direkte buddhistische Anspielungen oder Darstellungen wiederum auch nicht gibt. Sehr weite Verbreitung, nicht nur unter den Netsuke, fand die Figur des Patriarchen Daruma, der als Begründer des Chan-Buddhismus in China (in Japan wurde dann der Zen daraus) gilt. Aber immerhin, es gab keine Netsuke-Ausstellung bei uns, in der nicht das köstlich-komische Figürchen dieses indischen Heiligen mit großem Führercharisma präsent gewesen wäre. Eine Auswahl von gemischten Gottheiten wurde von der Bourgeoisie der Edo-Zeit zu „Glücksgottheiten” verkleinert und da man die
Netsuke schon von der Größe her als ideal am Leib mitzutragende Fetische und Glücksbringer bei sich haben wollte, waren sämtliche Glücksgottheiten (mit unterschiedlicher Bevorzugung) schnell als populäre Motive akzeptiert. Einer von ihnen (aber nicht nur er) vermag einen wirklich zu beschäftigen, es ist der Daikoku und er mag hier als ein Beispiel für jene weitreichende Hintergründigkeit gelten, die der Netsuke-Kunst einen sehr reizvollen Hauch von der „Grenzenlosigkeit” verleiht. Er symbolisiert den Reichtum, die Wohlhabenheit. Glücksgötter
werden ausnahmslos humoresk behandelt, sie sind Ballungen liebevoll spöttischen Witzes ihrer Schnitzer, aber eben auch kunstvoller Miniaturisierung ihrer gern eins Aflzunwnschfiche gezogenen Vennenschfichung. Der Dakoku istleicht an seiner runden Mütze und an seinem Fäustel zu erkennen (siehe 161), sehr oft an seinem Begleittier, der Ratte. Wörtlich bedeutet sein Name „Großer
Schwarzer”, das ist mit dem Mahakala (Sanskrit), einem lamaistischen Schutzgott der Zelte, der Wissenschaft und der Reichen, identisch. Aber als ein Reichtumsgott ist der Mahakala lange nicht so bedeutend wie der hinduistische und buddhistische Kubera, der unter etwas anderem Aspekt als Jambhala bekannt ist. Das allerwichtigste Attribut und Kennzeichen von Kubera oder Jambhala ist der Nakula oder Mungo, eine Schleichkatzenart (sie ist deshalb so sensationell, (weil sie Juwelen speien kann). Was aber ist dann, frage ich, die Ratte beim Daikoku, ein einstiger Nakula, dem irgendwann einmal auf seiner weiten Reise die Juwelen (die ihm an so manchen alten indischen oder tibetischen Darstellungen aus dem Mäulchen herausblitzen) im kleinen Schlund steckengeblieben sind?
Wie divergent sich aber Bedeutungen, die im Hintergrund verborgen sind, verästeln können, das zeigt gerade dieser Daikoku in 161. Jedoch aus einem völlig anderen Grund als seiner buddhistischen Seite. Gerade in dieser nicht eben seltenen Widersprüchlichkeit (die auch vielen anderen Motiven innewohnt, etwa der Ratte oder dem Glücksgott Hotei oder dem Teufelsfänger Shoki) weitet sich
das Feld durch eine Spannung aus entgegengesetzt verlaufenden Bedeutungslinien oftmals sehr beträchtlich hinter dem, was anfänglich vordergründig anspruchslos erscheinenden Inhalt verheißt. Was der Daikoku noch zu bieten hat, ist esoterisch, also nur für einen Eingeweihten verständlich, denn er hat vor sich einen Daikon liegen, ein Spiel mit der Wortähnlichkeit natürlich. Das ist ein gro-
ßer weißer Rettich. ln diesem Netsuke ist er eine subtile Manifestation des eindeutig Zweideutigen. Die Grenzenlosigkeit des mehrbeinigen Rettichs ist also weniger in seinem geschmacklich aufregenden Biergartlbiß zu finden als in seinenısexueflen AspekL den derJapanerherausdesflMene und zu anerikonographischen Netsuke-Pointe verwandelte. Der weiße Daikon ist ein nacktes
Weib, ein laszives sogar, der Daikon ist Yoshiwara (man hätte dieses nicht „Binsenfeld”, sondern „Rettichfeld” heißen sollen). Der Glücksgott hat keine Scheu, lachend auf die verräterische (konkret gar nicht existente) Stelle hinzuzeigen. Grenzenlosigkeit muß man als lrdischer immer sehr relativ sehen, so bin ich nach jahrelanger Bearbeitung von Netsuke von der relativen Beengtheit ihrer motivischen Vielfalt längst überzeugt, wie ich im gleichen Ausmaß und meistens ganz
spontan von ihrem so grenzenlos erheiternden wie begeisternden Aspekt erfüllt sein kann. Enorm groß ist die Variationskunst des Schnitzervolkes, eine überhaupt ostasiatische Eigenart, die ihre große Vorbildtradition in der jahrtausendelang geübten chinesischen Kopierfreudigkeit besaß. Man ahmte wohl peinlichst genau nach, übte ách aber besonders dann, ganz neu zuinsphferen und nflt
Geisteskraft zu beleben. So etwa schauten die Netsuke-Meister voneinander in genau derselben unverfrorenen Weise ab, wie ich einst von der Schulbank aus meine höchst eigene Spionagetätigkeit entwickelte. Aber diese Netsukeshi besaßen schöpfeflschen Charakterund so wunden aus denınachgeahnuen und möglicherweise ausspionierten Duplikat eine Kreation, ein vom Schöpfungsfunken erhelltes neues Geschöpf, ein wundersames Netsuke. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist der Shishi in 8, der vermag einen in seiner urmythologisch versponnenen Quicklebendigkeit in sein höchst eigenartiges Rundumwesen spiralenartig hineinzuwickeln, er ist Element genauso wie schalkhaft-witzige Kreatur, amalgamiert zu einem dämonisch-spritzigen Effekt sondergleichen. Sehen Sie, das ist auf geradezu charakteristische Weise superfiziell wie hintergrunds-
magisch, fesselnd und vielartig, typisch für ein Meister-Netsuke.
Vor kurzer Zeit erschien der Meinertzhagen Card Index, der sich im Besitz des Britischen Museums befindet, als zweibändiges und empfehlenswertes Werk. Meinertzhagen (MCI in der Literatur im Anhang) hat allerdings die Eigenart, bei bald jedem besseren Netsukeshi zu bemerken, daß jede Menge Fälschungen seiner Netsuke in Verbreitung seien. Nun entstammt Meinertzhagen, eines der Netsuke-Sammler-Denkmäler, einer in einer bestimmten Beziehung sehr viel engeren Netsuke-Welt als sie das heute ist. Früher war man, natürlich aus kolonialistischem Blickwinkel, sehr stark auf eine ausschließlich europäische Interpretation fixiert und hatte Schwierigkeiten, das genannte kreative Kopistenphänomen der ostasiatischen Kunst in seiner wahren Bedeutung zu verstehen, nämlich als einen sehr konsequenten traditionsgebundenen Lernprozeß und einen unübersehbaren Variantenreichtum als Folge. Nicht eitel gebärende Genieblitze, die relativ isoliert dastehende singuläre Werke warfen. Das gab es in diesem Sinne nicht so, aber in der Netsuke-Kunst auf jeden Fall die zumindest genial anmutenden Einfälle (und dazu die extrem ausgefeilten Arbeiten) innerhalb der größeren übergeordneten Konventionen. Genaugenommen müßte eine genealogisch lückenlose Abfolge von einer bestimmten Künstlerfamilie (es gibt sie auf anderen Gebieten in Japan über Jahrhunderte hinweg, bei den Netsuke sind die Masanao von lse u.a. ein bekanntes Beispiel) bald nach ihrem Begründer (der sehr oft der herausragendste Charakter war) nur mehr aus Fälschungen bestehen. Denn die hielten sich alle sehr hautnah an das einmal Ausgebrütete, das wie ein Schöpfungsei oder Leitgestirn über dem Nest des Clans hing und seine mehr oder weniger bindenden lnspirationsschwingungen ausstrahlte. Wir sind also heute im Werten von sogenannten „Fälschungen“ aufgrund eines viel offeneren Horizontes des Verstehens ganz woanders angekommen und wesentlich konkreter geworden. Schlechte Arbeiten sind ebenso leicht zu erkennen wie echte Fälschungen in fast allen Fällen auch. Die verbreiteten Hongkong-Netsuke sind
kaum als Fälschungen zu betrachten, sondern einfach als Mist. Wer es nicht gleich sieht, dem stößt wahrhaftig kein Unglück zu. Ich komme abschließend zu einer ganz anders gearteten „Grenzenlosigkeit”, wie bereits versprochen. Den Netsuke ist es auf sehr sonderbare Weise eigen,
sich ab einer bestimmten Zeit (und die ist bis heute herauf wirksam) geradezu wie eine Explosion über die halbe Welt ausgebreitet zu haben, so radikal, daß man in Japan nahezu überhaupt nicht mehr wußte, was ein Netsuke ist und sich überall (früher in der weitgehend westlichen, heute aber wirklich schon in der ganzen Welt) Sammler und Sammlungen vermehrten. Unser heuriges Netsuke-Symposium spielt sich zur Hälfte in Budapest ab. Das wäre kaum so gekommen, hätte sich dieses Land in jüngster Zeit nicht immer mehr geöffnet und gäbe es nicht in Budapest Netsuke-Sammler genauso wie interessante Bestände in den dortigen Museen. Der Aufbruch unseres Nachbarlandes besitzt übrigens eine Zukunftsdimension, von der die wenigsten Osterreicher den Ansatz einer Ah-
nung haben. Aus der Netsuke- Perspektive waren wir dort von der Freundlichkeit und dem unaufdringlichen sachlichen Wissen begeistert. Fern von jeder musealen Kleinkrämerei reichte man uns die Netsuke-Hand. Kedveli Ön Netsuke-t- lieben Sie Netsuke, ungarische Netsuke? Netsuke können eben, nicht nurüber so viele Grenzzäune hinweg, wie grenzenlos erscheinen. Diese Anmut
macht sie uns kostbar.

WOLFMAR ZACKEN

* Eine Variante aus Anlaß, weil das Netsuke-Symposium 1989 erstmals teilweise in Bu-
dapest stattfinden wird. „Lieben Sie Netsuke?”

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