Das Japanische Schwert von Markus Sesko

Das Schwert ist eines der repräsentativsten Objekte und wichtigsten Kulturgegenstände Japans. Die „Geburtsstunde“ jenes Schwertes das wir heute gemeinhin als „japanisches Schwert“ oder „nihontō“ bezeichnen – also einer einschneidigen, gekrümmten, beidhändig geführten Klinge mit rautenförmigem Querschnitt – ist schwer festzulegen. Bis etwa Mitte der Heian-Zeit, sprich dem 9. Jh. n. Chr., trug man ungekrümmte Klingen (die sog. „chokutō“), die ihr Vorbild in Schwertern der chinesischen Táng-Dynastie (618-907) hatten, durch Wissensaustausch aber auch bald in Japan selbst angefertigt wurden. Als sich die damalige Yamato-Regierung den nördlichsten Teil der Hauptinsel Honshû einverleibte, brachte man kürzere und merklich breitere Klingen (die sog. „warabide-tō“) zurück, die ihren Ursprung in selbständig aus früheren Einwanderungsschüben entwickelten Schwertern hatten. Zurück im japanischen Kerngebiet verschmolzen diese beiden Einflüsse mit der zunehmenden Kriegsführung zu Pferd zu einer Schwertform, die mehr auf den „schneidenden Hieb“ denn auf den schlichten Hieb oder Stich ausgerichtet war. Für eine Schnittbewegung – bestehend aus dem Hieb und dem simultanen an den Körper ziehen des Schwertes – ist nämlich eine gekrümmte Klingenform (das sog. „wantō“) deutlich von Vorteil.

Bild 1:  Verschmelzung des warabide-tō (oben) mit festlandbasierten Klingen (Mitte) zum frühen wantō (unten).

Bild 1: Verschmelzung des warabide-tō (oben) mit festlandbasierten Klingen (Mitte) zum frühen wantō (unten).

Für die Verwendung zu Pferde mussten die Klingen natürlich länger werden, und vom funktionellen Gesichtspunkt her ist so die besonders an der Klingenwurzel und am Griff ausgeprägte Krümmung der frühen wantō nachvollziehbar, die die Ziehbewegung einer solch langen Klinge unterstützte. Um eine bessere Schneidwirkung zu erzielen, verschob man den Grat (den „shinogi“) in Richtung Klingenrücken, um eine breitere Schnittfläche zu bekommen. Dies hatte zur Folge, dass der Klingenquerschnitt nun am shinogi aus Stabilitätsgrunden breiter werden musste, d.h. aus dem nahezu rechteckigen Querschnitt mit Schneidkante der bis dato verwendeten chokutō wurde der klassische rautenförmige Querschnitt. Nebenbei erwähnt, es existieren auch ältere Klingen mit dem Ansatz einer Krümmung (dem sog. „sori“), doch diese geht auf einen Nebeneffekt der Härtung der Schneidkante zurück, da sich die schneller aushärtenden Bereiche der dünnen Schneide stärker ausdehen als der dickere Klingenrücken. Das heisst man kann hier noch nicht von einem bewußt angebrachten sori sprechen. Anhand von erhaltenen Schwertern mit Übergangsformen und historischen Aufzeichnungen und Darstellungen können wir aber sagen, dass wantō ab der mittleren Heian-Zeit aufkamen, und das die Entwicklung zum nihontō etwa gegen Ende der Heian-Zeit abgeschlossen war. Was die Veränderungen der Klingen von der späten Heian- bis zur frühen Kamakura-Zeit anbelangt, so stellen wir fest, dass während der zweiten Hälfte der Heian-Zeit auch eine Verschiebung in Richtung indigener Kunst und eigenem Handwerk stattgefunden hatte und man sich allmählich vom Einfluss festländischer Kultur löste.

Bild 2: Verschmelzung des warabide-tō (oben) mit festlandbasierten Klingen (Mitte) zum frühen wantō (unten).

Bild 2: Verschmelzung des warabide-tō (oben) mit festlandbasierten Klingen (Mitte) zum frühen wantō (unten).

Mit dem Übergang zur Kamakura-Zeit wurden die Klingen eine Spur breiter und massiver, behielten aber dennoch die Eleganz heianzeitlicher Arbeiten. Entsprechend der berittenen Kriegsführung hochrankiger bushi betrug die Klingenlänge nun etwa 82 bis 85 cm. Die Schwerter waren stark gekrümmt und hatten eine bauchige Schneidfläche, da vornehmlich gegen Rüstungen bestehend aus überlappenden Eisenlamellen vorgegangen werden musste. Mit den Mongoleninvasionen der Jahre 1274 und 1281 sahen sich die japanischen Krieger mit einer bis dato unbekannten Problematik konfrontiert, und zwar trugen die festländischen Angreifer gefütterte oder ungefütterte Lederrüstungen. Um effektiver gegen diese Art von Rüstungen vorgehen zu können wurden die Klingen schmäler und die Schneidfläche größer und flacher.

Bild 3: Von der Kamakura- (oben) zur Nanbokuchō-Form (unten).

Bild 3: Von der Kamakura- (oben) zur Nanbokuchō-Form (unten).

Recht anschaulich lassen sich auch die Unterschiede der alteingesessenen Schmiedetraditionen (der sog. „gokaden“) verfolgen. Die ältesten Traditionen, jene Yamatos und Yamashiros, bauen auf einer linearen Härtung (dem sog. „suguha“) entlang der Schneidkante auf, die noch in den Frühschwertern verwurzelt ist. Mit der technischen Weiterentwicklung der Bizen-Tradition etwa ab Beginn der Kamakura-Zeit versuchte man das Problem einer stabilen aber dennoch schnitthaltigen Klinge dadurch zu lösen, dass man die Härtung in regelmäßigen Abstand unterbrach, damit sich ein etwaiger durch Auftreffen auf ein Ziel entstehender Riss nicht horizontal ausbreitet. Dies resultierte im sog. „chōji-hamon“. Die etwas später etablierte Sōshū-Tradition versuchte nun, die maximale Effektivität einer Schwertklinge durch Verschmiedung Stähle verschiedener Härte – also unterschiedlich hohem Kohlenstoffgehalts – zu erreichen, was sich in einer lebhaften Schmiedestruktur widerspiegelt.
Durch den Beginn der kriegerischen Sengoku-Periode in der zweiten Hälfte des 15. Jh. erlebte Japan eine noch nie dagewesene Aufrüstung, was sich natürlich auch in der Schwertproduktion niederschlug. Mit Abstand wurden in keiner anderen Epoche so viele Klingen geschmiedet wie zu jener Zeit, wobei ein sehr großer Teil sog. „kazuuchi-mono“, also in Massen in Großmanufakturen hergestellte Klingen waren, bei denen mehr Wert auf die Praktabilität als auf ein schönes Erscheinungsbild gelegt wurde. Neben Bizen rückte Mino als großes neues Schmiedezentrum in den Fokus, wo sich schon bald die fünfte und jüngste der genannten Schmiedetraditionen entwickelte. Die praktisch ausgelegten, sehr scharfen Mino-Klingen genossen unter den bushi – die zu jener Zeit quasi tagtäglich mit Kämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen konfrontiert waren – einen exzellenten Ruf. Und so wurden Schmiede aus Mino in die lokalen Arsenale der daimyō abgeworben. Durch den durchgehend großen Bedarf an Schwertern mussten sich zwangsläufig auch die Methoden der Stahlerzeugung ändern, was dazu führte, dass der Stahl sengokuzeitlicher Klingen über die meisten Schulen hinweg recht uniform auftritt. Es mussten auch teilweise alte, zeitaufwendige und handwerklich anspruchsvolle Schmiedemethoden wie hon-sanmai-awase oder shihō-zume zugunsten den schnellerern und materialsparenderen makuri-gitae oder kōbuse aufgegeben werden.

Bild 4:: Klinge aus der etwas späteren Muromachi-Zeit.

Bild 4:: Klinge aus der etwas späteren Muromachi-Zeit.

Nach der von Tokugawa Ieyasu gewonnenen Schlacht von Sekigahara trat auch das japanische Schwert in ein neues Zeitalter ein und das sog. „shintō“, das wörtl. „neue Schwert“ waren geboren. Mußten die früheren kotō-Schmiede noch auf lokal produzierte Stähle zurückgreifen, war das Rohmaterial Stahl nun aufgrund des durch die Tokugawa-Regierung forcierten Straßenbaus freier verfügbar. Das bedeutet, dass das Erscheinungsbild des Stahls einer Klinge kaum noch Rückschlüsse auf lokale Charakteristika zuläßt. Kann man einige kotō-Klingen lediglich aufgrund ihres Stahles einer gewissen Region zuschreiben, ist dies im shintō kaum bzw. nur in Kombination mit weiteren Merkmalen möglich. Bei den Schmieden und ihren Schulen der Edo-Zeit machte sich die Urbanisierung sehr stark bemerkbar. Es gab kaum einen herausragenden Meister, der nicht in Edo, Kyōto, Ōsaka oder einem der Lehenszentren tätig war. Durch die reicher werdende Kaufmannsschicht erweiterte sich ab der mittleren Edo-Zeit der Kundenkreis für die Schmiede, da diese sich – um ihren neuen Reichtum zur Schau stellen zu können – flamboyante Klingen und Montierungen von den Top-Meistern ihrer Zeit anfertigen ließen. Da sich die Klingen außer in Duellen kaum mehr beweisen konnten, führte man die Praxis der Schnittests (der sog. „tameshigiri“) ein, wobei verschiedene standardisierte Hiebe ausgeführt wurden, teilweise auch an zwei oder drei übereinandergestapelten Körpern. Ein Schmied dessen Klingen sehr gut in solchen tameshigiri abschnitten, konnte für seine Arbeiten natürlich einen höheren Preis veranschlagen.

Bild 5: Flamboyante shintō-Klinge.

Bild 5: Flamboyante shintō-Klinge.

Doch mit der stark sinkenden Nachfrage nach Schwertern während der Edo-Zeit sank kontinuierlich auch die Qualität der Klingen. Es sollte bis zum Auftreten des großen Meisters Suishinshi Masahide (1750-1825) dauern, bis tatsächlich ein Ruck in Sachen Quantität und Qualität zu bemerken war. Masahide versuchte mehr oder weniger im Alleingang, die alten Schmiedetraditionen der Heian- und Kamakura-Zeit wiederzubeleben. Seine veröffentlichten Studien zum Thema Schwert und Schmiedetechniken bescherten wiederum der Schwertliteratur an sich einen Auftrieb. Diese Initiative Masahides Masahides nehmen wir heute als Wendepunkt zum sog. „shinshintō“, dem wörtl. „ganz neuen Schwert“.
Als die Tokugawa-Regierung im Jahre 1867 gestürzt und die neue Regierung unter Kaiser Meiji eingerichtet wurde, schaffte man sukzessive das Lehenssystem und den Stand der samurai ab. Um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten versuchte man das Tragen von Schwertern zu verbieten, was sich aber als nicht so einfach erweisen sollte, da viele davon ausgingen, dass das Aufgeben das Schwert zu tragen die Seele und die Moral der bushi für immer auslöschen, und so im Umkerhschluss das Kaiserreich zwangsläufig schwächen würde. 1870 erließ man dann das Schwerttrageverbot für das „einfache Volk“ und ein Jahr später wurde den samurai nahegelegt, freiwillig auf das Tragen der Schwerter in der Öffentlichkeit zu versichten. Das finale Schwerttrageverbot für alle Nicht-Angehörigen der kaiserlichen Armee und Polizei wurde dann im Jahre 1876 erlassen. Doch Kaiser Meiji war selbst ein Schwertliebhaber, der bei Zeiten dafür gesorgt hatte, dass diese Kunstform nicht verlorengeht. Im Jahre 1871 verabschiedete das Kabinett der Meiji-Regierung das „Dekret zur Erhaltung alter Gegenstände“ (koki-kyūbutsu-hozon-kata), bei dem zuerst alle alten Gegenstände der Tempel und Schreine des kinai-Zentralgebiets erfaßt wurden. Von Mai bis Oktober 1872 erfolgte Japans erste offizielle Untersuchung seiner Kulturgüter (den sog. „bunkazai“). 1888 gründete das Kaiserliche Haus- und Hofamt die „Behörde für die vorläufige Untersuchung der Kostbarkeiten des ganzen Landes“. Einige Zeit später, im Jahre 1897, erfolgte ein Gesetz zum Schutze alter Schreine und Tempel, das nun neben den darin aufgebewahrten Gegenständen auch die Gebäude selbst schützte. Das Nachfolgegesetz, das im Jahre 1929 erlassene „kokuhō-hozon-hō“ („Gesetz zum Schutze der Nationalschätze“), ermöglichte es erstmals, dass auch Gegenstände zu Nationalschätzen deklariert werden, die nicht im Besitz von Tempeln oder Schreinen waren. Und 1933 folgte eine weiteres Gesetz, nämlich das Gesetz zur Erhaltung wichtiger Kunstgegenstände, den sog. „jūyō-bijutsuhin“. Das moderne, heute gültige Denkmalschutzgesetz (Bunkazai-hogo-hō) wurde 1950 verabschiedet. In diesem Denkmalschutzgesetz wird zum ersten Mal zwischen materiellen (yūkei-bunkazai) und geistigen Kulturschätzen (mukei-bunkazai), und auch der „Wichtigkeit“ der zu schützenden Objekte unterschieden. Seither wurden etwa 880 Schwerter als jūyō-bunkazai und 122 als kokuhō eingestuft.

Markus Sesko

Der Autor:

Markus Sesko ist seit 2009 als professioneller Übersetzer im Bereich japanische Kunst und japanische Antiquitäten mit Spezialgebiet Schwerter, Schwertzierrate und Rüstungen tätig. Seit 2006 ist er auch in dieser Funktion für die European Branch der NBTHK – der Gesellschaft zur Erhaltung des japanischen Kunst-Schwertes (www.nbthk.net) – tätig. Ein Hauptanliegen des Autors ist es, sukzessive japanisches Grundlagen- und weiterführendes Fachwissen dem interessierten deutsch- und englischsprachigen Publikum zugängig zu machen. In diesem Sinne sind von Markus Sesko bis dato um die 15 (größtenteils zweisprachige) Publikationen erschienen und zahlreiche individuelle Übersetzungen von Texten, Büchern und Ausstellungskatalogen vorgenommen worden.

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Netsuke von echten Meistern

DIE UNHARMLOSIGKEIT

Ein schon schrecklich naiver Zug so mancher Leute, die auch in der Welt der Netsuke mitmachen wollen, ist deren Beflissenheit, in jedem Netsuke (egal ob alt, unecht, aus Hongkong oder von sonstwo her) etwas gar so Liebreizendes zu sehen, eine Süßlichkeit, ein Bonbon, eine Mozartkugel (was mitunter in Form, Farbe und Größe hinkommen kann). Ein elfenbeinernes Kiecherding, ein miniaturisierter Gartenzwerg. Nicht daß ich Angst hätte, diese Leute würden bald alle Netsuke-Welt überschwemmen. Nein, auch will ich kein Weltverbesserer werden. Solche Unart gibt es nun einmal, aber gerade bei den japanischen Netsukeist sie besonders deplaziert und trifft weit neben den Kern. Sicherlich sind manche sehr spät entstandene Netsuke in gewisser Hinsicht Ausnahmen. Sie wurden aber bereits eigens für diesen bestimmten Geschmack gefertigt, nämlich um es zu pauschalieren – für kitschig veranlagte Amerikaner, also für den Export. Man könnte auch von der anderen Seite her argumentieren und sagen, dass sich die Kunst der Netsuke ab einem bestimmten Zeitpunkt aufweichen ließ. Man vergesse aber nicht den direkten Zusammenhang mit dem so schnellen Ende vieler davor eiserner Traditionen in Japan, einst von der Samurai-Moral zusammengehalten, über Nacht geborsten, ins Nichts zerfasert. Für einige ist diese historische Zeitmarke zugleich auch das Ende der Netsuke-Kunst; der klassischen gewiß, obwohl wiederum nicht restlos. Nach acht größeren Netsuke-Ausstellungen und mehreren kleineren habe ich weit über 1500 Netsuke beschrieben und besehen. Mit der Zeit wurde ich immer offener gegenüber der schon von den Netsuke selbst ausgehenden Forderung, diese Kunst chronologisch einfach durchlaufen zu lassen, sogar bis heute herauf. Vor allem für den Newcomer möchte ich einschieben, daß die große schöpferische Hauptperiode der Netsuke-Kunst ungefähr in der Mitte des 18. Jh. Beginnt und sich bis zum Ende der sogenannten Edo-Zeit, das ist 1868, ausdehnt. Dieses Datum war für Japan eine unerhört markante Zäsur. Die einst so stark und bis in jede einzelne Privatsphäre hinein präsente Militärdiktatur des Shongunates war zerbrochen, nicht absolut unvermutet, aber doch eher urplötzlich. Die Amerikaner hatten mit den geschichtsberühmt gewordenen „Schwarzen Schiffen” des Commodore Perry die Offnung japanischer Häfen erzwungen. Das war ein vorwiegend handelspolitischer Kraftakt, für Japan war es der Abbruch einer Lawine, die das Shogunat mit sich riß. lm alten Japan residierte der Kaiser, politisch machtlos, in Kyoto. Das Bakufu, die Militärregierung, hatte im politischen Epizentrum – in Edo – ausnahmslos alle Zügel in den Händen. Als der Umsturz kam, wechselte der Kaiser sogleich von Kyoto nach Edo, taufte es um in Tokyo, „Hauptstadt des Ostens”, und übernahm die Regierungsgewalt. Die neue Meiji-Zeit, von 1868 bis 1912, ist nach dem Kaiser Meiji benannt. Das Ende der Edo-Periode, in deren spätem Teil weitgehend die Netsuke-Kunst liegt, ist aber
lange noch nicht im gleichen Atemzug das Schaffensende einer Vielzahl von Netsuke-Meistern (man nennt sie Netsukeshi), die über dieses Datum hinaus lebten. Das würde heißen, Geschichte mit dem Lineal zu fabrizieren. Es ergaben sich für die Netsuke-Kunst sicherlich eine ganze Reihe von schweren Torpedo-treffern. Einer war das Verlöschen des Samurai-Standes, dieser orthodoxen Gesittung, und mit ihm verschwanden die lnro, und auch die Obi und Kimono. Der zweite große Torpedo waren westliche Zigaretten, der Tod für die skurrile japanische Pfeife samt allem Zubehör. Ihr Hinfälligwerden war ein starkes Argument gegen die Netsuke. Die Nr. 123 unseres Kataloges zeigt ein prächtiges Tonkotsu (sogar noch mit Tabak darin) von Kaigyokusai Masatsugu. Es ist zu bezweifeln, ob er -der bis 1892 lebte – dieses Stück in der Meiji-Zeit noch gemacht hätte. Dieser Künstler ist überhaupt ein allerbestes Beispiel dafür, wie ein Genie (vielleicht eine Voraussetzung) über so einschneidende Geschichtsdaten hinübergleitet, man erinnere sich auch an Zeshin. Aber neben diesen beiden Namen gäbe es natürlich noch viele mehr zu nennen.lronischerweise fing die Verwandlung der Netsuke zu viel harmloseren Gesichtern gerade und genau mit dem genannten Perry an. Mit einem seiner Seeleute, wie UR (siehe Literatur im Anhang) berichtet. Dieser hatte an den Japanern sofort das Rauchzeug entdeckt, welches sie alle an ihren Obi trugen, von einem Gürtelknebel, dem Netsuke, daran festgehalten. lm konkreten Fall war es ein Masken-Netsuke, das den Amerikaner faszinierte, so etwas hatte er noch nie gesehen. Der Japaner war völlig verschreckt, er dachte, es ginge ihm an den Kragen. Später jedoch wurde der Tausch perfekt und aus ihnen (dazwischen wanderte der Japaner wegen illegalen Handels ins Gefängnis) eifrig tätige Geschäftspartner, die einen Exportbetrieb mit Netsuke und Sagemono eröffneten. Ab diesem Punkt begann die gewisse Tragödie, daß japanische Künstler für den Export, für die Amerikaner und schnell für deren Geschmacksnuancen arbeiteten. Das ist sicher nichts unfaßbar Arges, es gibt so manche hübsche und amüsante Netsuke, aber die sind doch immer weitaus mehr von der harmloseren Sorte. Da gibt es kein Tremolo mehr aus der Tiefe der Mythologie, an starrender Dämonie oder irrsinnigem
Spuk. Aber gerade darin liegt eine der Hauptattraktionen der Netsuke-Kunst. Was uns etwa so sehr an den urigen Perchtenauftritten in den Alpen zu fesseln weiß, das bieten auch die Netsuke, sogar völlig ähnlich. Denken Sie nur an die Masken der Dämonin Hannya, wie in Nr. 46. Jedoch – und darin besteht der bedeutende Unterschied – ins perfekte Kleine umgewandelt. Die Netsukeshi wurden mit der Zeit – das war ein evolutionärer Prozeß – zu genialen Meistern der Miniaturisierung. Nicht um ihrer selbst willen, denn das wäre bald ins Kitschige
ausgeglitten, sondern vor allem wegen der Notwendigkeit, in winzigen Formaten und gut abgerundet arbeiten zu müssen. Der kleinere Gürtelknebel war praktischer und man konnte bei Gesellschaften außerdem Leute über die Akribie des Schnitzers ins Staunen versetzen. Aber man glaube nicht, daß dieser Beruf vielleicht einfach war, es waren harte Bedingungen gegeben. Beste Augen und große Geschicklichkeit mit den Händen, einem Juwelier vergleichbar, waren Voraussetzung. Dazu kamen noch diffizilste Ansprüche bei anatomischen und physiognomischen Hürden, derer wohl unzählige waren. Wir müssen bedenken, wie perfekt einerseits und wie lebendig-realistisch zugleich so viele Netsuke gelöst wurden. Wirklich individuelle Gesichtszüge bei der Kleinheit noch wiederzugeben (und oft spielen sie dramaturgisch eine ganz genau definierte Rolle), ist ohnehin wie ein Wunder. Zu diesen Ausdrucksschattierungen kommen noch die Kulminierung in der Expression oder das sinnvolle Spiel im Faltenwurf, die Dramaturgie der Bewegungen usw. ln dieser Beziehung darf man sich auf ganz normaler Ebene bei den Netsuke umschauen und braucht keinesfalls in Extreme zu gehen. Oder ist es ein Extrem, wenn die kleine Schnecke auf dem Holzschaff in Nr. 81 nicht nur kriecht und lebt, also Kreatur ist, sondern sich in einem konzertierten System von Spannungskoordinaten fortbewegt, und daneben sogar noch vier Fühler hat. Das ist die Unharmlosigkeit, die in diesem ohnehin gewiß poetisch-harmloseren Netsuke bereits so ernsthaft fühlbar wird. In aber fast jedem guten echten alten (wie gesagt, es gibt Ausnahmen jüngerer Natur) knistert es vor immanenter Spannung, vor recht rätselhafter Verästelung des Inhaltes, tief in Hintergründigkeit hinein. Mit einem beispielhaften Motiv möchte ich die Anhänger der Harmlosigkeitslehre desperat machen. Man findet dieses Beispiel
in Nr. 167 und es ist ein sehr typisches für diese Abgründigkeit und gleichzeitig der doch mehr vordergründigen humoresken Vernetzung, die schon wie ein Zwang war (und nicht ohne Zusammenhang zur damaligen politischen Lage). Sehen Sie sich dieses Netsuke an, Sie werden vielleicht sagen ein lieber Hase, womöglich aus einem Märchen (halt nicht von den Brüdern Grimm, obwohl es denen an Unharmlosigkeiten nicht mangelte). Ist es nicht merkwürdig, wie der
„Hase” einen Hut über den Mann stülpt? Ich sage lhnen, er ermordet ihn gerade mit seinem Hodensack. Der „Hase” ist eine unwirkliche Bestie, nämlich ein Tanuki (er wird auch Dachsgeist genannt, aber das ist schon beinahe peripher). Für die gewisse Bodenlosigkeit in der Netsuke-Kunst ist er ein Paradebeispiel. Er ist die Stelle, wo sich der vorpräparierte und mit Griffen bepflasterte Klettersteig in Nichts auflöst, wo die Spuren realitätsbezogenen Wissenwollens von obskurer Dunkelheit umfangen werden. Das ist das so prickelnd unharmlose Schauern, das sich auftut und der Tanuki-Punkt jene Grenzlinie, jenseits welcher sich eine Terra incognita öffnet, ein Reich des ganz lrrationalen. Dieses, gepaart mit der großen künstlerischen Begabung so vieler Netsukeshi und ihrem Sinn für vielseitigen Humor, ist jenes Ereignis in der Kunst der Netsuke, das den Connaisseur
viel beschäftigt und unterhält.

DIE GRENZENLOSIGKEIT

lch gehe hier von einem ganz großen Gegensatz aus (möchte aber auch vorausschicken, daß ich zwei recht verschiedene Arten der Grenzenlosigkeit im folgenden meine). Keiner, der sich mit Netsuke-Kunst zu beschäftigen anfängt, hat selbst eine nur vage Vorstellung, was alles dahintersteckt und ihn mit der Zeit in Ungeahntes verwickeln kann. Da dieses Ausmaß eine kleine ungeheuerliche Dimension besitzt, darf es mit Fug und Recht eine „Grenzenlosigkeit” genannt werden. Die Netsuke sind in der Mehrheit doch recht abnorm klein (bei wirklich größeren Netsuke empfindet man es bereits als unanständig, sich derart aufzublähen; und zu bewundern sind nur jene Magier, die munterste Beweglichkeiten ganz locker in kleinste Proportionen transformierten). Die Antagonismen beginnen stufenweise, zuerst einmal die vielen Motive, dann die bereits wimmelnden Netsukeshi, deren Familien, Schulen, Adoptionen und Genealogien verwirrend sind, schließlich aber das wie endlos erscheinende Gewebe panasiatischer Verflochtenheit. Es ist maßlos, undurchschaubar, es verträgt einen wie Flugsamen im Wind, aber es ist ebenso anziehend. Das Netsuke, isoliert betrachtet, abgenabelt von den Zusammenhängen, ist gewiß in einigem seiner Unharmlosigkeit
beraubt. Japan ist ein geradezu klassisches Land für das Zusammentreffen von Einflüssen, trotz oder wegen seiner lnsellage; hierin ist es eventuell mit England vergleichbar. Die Japaner besaßen und besitzen es heute noch in einem ungewöhnlichen Ausmaß, hellhörig und instinktiv zu sein, für ihre eigene Entwicklung wertvolle, bereichernde Dinge aufzuspüren, ihnen Tür und Tor zu öffnen, um sie dann, sobald sie im Land sind, weiterzuentwickeln und sie ganz zum eigenen Nutzen zu verwerten. Die alte heimische Religion Japans wird Shinto genannt. ln der Netsuke-Kunst gibt es sehr viele Zusammenhänge mit diesem Shinto, seiner Mythologie und seinen animistischen Zügen. Volkstümlichstes Bildnis und eigentlich recht vieldeutiges Netsuke-Motiv ist die Okame, eine Shinto-Göttin der ersten Stunde und ein Urbild kultisch zu deutender Sinnlichkeit. Der Shinto alleine genügte den Japanern jedoch nicht. Als der Buddhismus, fast ein halbes Jahrtausend nach dem historischen Buddha Shakyamuni, den Weg seiner kontinentalen Ausbreitung antrat und sämtliche Länder ab Indien Ostwärts, auch die lnselstaaten, erfaßte, blieb Japan von ihm vorerst noch unberührt. Erst im 6. Jh. begann man in Japan seine Reize zu entdecken und seine erste Glanzzeit entfaltete sich wenig später, in China blühte da gerade die klassische Epoche der Tang. Der Buddhismus war in seinem Wesen tolerant und aufnahmefähig, er arrangierte sich in China mit der komplexen Philosophie des Dao und sogar mit konfuzianischer Ethik und daran geschult danach mit dem japanischen Shinto.
Was will ich nun in Zusammenhang mit den Netsuke damit sagen? Wenn wir es mit Motiven aus der Legendenwelt, aus der Mythologie zu tun haben, dann spielt im japanischen Netsuke oft das Chinesische, dieser große Kulturraum eine maßgebliche Rolle, denn der Buddhismus trug mit seiner breiten Strömung unvorstellbar viel davon nach Japan hinüber und verwebte es dort sogleich, ganz
zusammenhänglich mit seinen synkretistischen (das „Zusammenwachsen”) Eigenschaften zu einem dicht gesponnenen Stoff. Nun ist aber der Ursprung des Buddhismus in Indien und wenn wir uns auf so manche ganz harmlose Spurensuche in Netsuke-Hintergründe begeben, dann geraten wir immer wieder unverhofft entweder an eine undurchsichtige Grenze oder in jene Sphäre der Grenzenlosigkeit. Weil es uns so weit zurückträgt, mitunter sogar bis über die ikonographischen Quellen des Buddhismus hinaus. Dagegen muß aber festgestellt sein, daß es in der Netsuke-Kunst so besonders viele direkte buddhistische Anspielungen oder Darstellungen wiederum auch nicht gibt. Sehr weite Verbreitung, nicht nur unter den Netsuke, fand die Figur des Patriarchen Daruma, der als Begründer des Chan-Buddhismus in China (in Japan wurde dann der Zen daraus) gilt. Aber immerhin, es gab keine Netsuke-Ausstellung bei uns, in der nicht das köstlich-komische Figürchen dieses indischen Heiligen mit großem Führercharisma präsent gewesen wäre. Eine Auswahl von gemischten Gottheiten wurde von der Bourgeoisie der Edo-Zeit zu „Glücksgottheiten” verkleinert und da man die
Netsuke schon von der Größe her als ideal am Leib mitzutragende Fetische und Glücksbringer bei sich haben wollte, waren sämtliche Glücksgottheiten (mit unterschiedlicher Bevorzugung) schnell als populäre Motive akzeptiert. Einer von ihnen (aber nicht nur er) vermag einen wirklich zu beschäftigen, es ist der Daikoku und er mag hier als ein Beispiel für jene weitreichende Hintergründigkeit gelten, die der Netsuke-Kunst einen sehr reizvollen Hauch von der „Grenzenlosigkeit” verleiht. Er symbolisiert den Reichtum, die Wohlhabenheit. Glücksgötter
werden ausnahmslos humoresk behandelt, sie sind Ballungen liebevoll spöttischen Witzes ihrer Schnitzer, aber eben auch kunstvoller Miniaturisierung ihrer gern eins Aflzunwnschfiche gezogenen Vennenschfichung. Der Dakoku istleicht an seiner runden Mütze und an seinem Fäustel zu erkennen (siehe 161), sehr oft an seinem Begleittier, der Ratte. Wörtlich bedeutet sein Name „Großer
Schwarzer”, das ist mit dem Mahakala (Sanskrit), einem lamaistischen Schutzgott der Zelte, der Wissenschaft und der Reichen, identisch. Aber als ein Reichtumsgott ist der Mahakala lange nicht so bedeutend wie der hinduistische und buddhistische Kubera, der unter etwas anderem Aspekt als Jambhala bekannt ist. Das allerwichtigste Attribut und Kennzeichen von Kubera oder Jambhala ist der Nakula oder Mungo, eine Schleichkatzenart (sie ist deshalb so sensationell, (weil sie Juwelen speien kann). Was aber ist dann, frage ich, die Ratte beim Daikoku, ein einstiger Nakula, dem irgendwann einmal auf seiner weiten Reise die Juwelen (die ihm an so manchen alten indischen oder tibetischen Darstellungen aus dem Mäulchen herausblitzen) im kleinen Schlund steckengeblieben sind?
Wie divergent sich aber Bedeutungen, die im Hintergrund verborgen sind, verästeln können, das zeigt gerade dieser Daikoku in 161. Jedoch aus einem völlig anderen Grund als seiner buddhistischen Seite. Gerade in dieser nicht eben seltenen Widersprüchlichkeit (die auch vielen anderen Motiven innewohnt, etwa der Ratte oder dem Glücksgott Hotei oder dem Teufelsfänger Shoki) weitet sich
das Feld durch eine Spannung aus entgegengesetzt verlaufenden Bedeutungslinien oftmals sehr beträchtlich hinter dem, was anfänglich vordergründig anspruchslos erscheinenden Inhalt verheißt. Was der Daikoku noch zu bieten hat, ist esoterisch, also nur für einen Eingeweihten verständlich, denn er hat vor sich einen Daikon liegen, ein Spiel mit der Wortähnlichkeit natürlich. Das ist ein gro-
ßer weißer Rettich. ln diesem Netsuke ist er eine subtile Manifestation des eindeutig Zweideutigen. Die Grenzenlosigkeit des mehrbeinigen Rettichs ist also weniger in seinem geschmacklich aufregenden Biergartlbiß zu finden als in seinenısexueflen AspekL den derJapanerherausdesflMene und zu anerikonographischen Netsuke-Pointe verwandelte. Der weiße Daikon ist ein nacktes
Weib, ein laszives sogar, der Daikon ist Yoshiwara (man hätte dieses nicht „Binsenfeld”, sondern „Rettichfeld” heißen sollen). Der Glücksgott hat keine Scheu, lachend auf die verräterische (konkret gar nicht existente) Stelle hinzuzeigen. Grenzenlosigkeit muß man als lrdischer immer sehr relativ sehen, so bin ich nach jahrelanger Bearbeitung von Netsuke von der relativen Beengtheit ihrer motivischen Vielfalt längst überzeugt, wie ich im gleichen Ausmaß und meistens ganz
spontan von ihrem so grenzenlos erheiternden wie begeisternden Aspekt erfüllt sein kann. Enorm groß ist die Variationskunst des Schnitzervolkes, eine überhaupt ostasiatische Eigenart, die ihre große Vorbildtradition in der jahrtausendelang geübten chinesischen Kopierfreudigkeit besaß. Man ahmte wohl peinlichst genau nach, übte ách aber besonders dann, ganz neu zuinsphferen und nflt
Geisteskraft zu beleben. So etwa schauten die Netsuke-Meister voneinander in genau derselben unverfrorenen Weise ab, wie ich einst von der Schulbank aus meine höchst eigene Spionagetätigkeit entwickelte. Aber diese Netsukeshi besaßen schöpfeflschen Charakterund so wunden aus denınachgeahnuen und möglicherweise ausspionierten Duplikat eine Kreation, ein vom Schöpfungsfunken erhelltes neues Geschöpf, ein wundersames Netsuke. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist der Shishi in 8, der vermag einen in seiner urmythologisch versponnenen Quicklebendigkeit in sein höchst eigenartiges Rundumwesen spiralenartig hineinzuwickeln, er ist Element genauso wie schalkhaft-witzige Kreatur, amalgamiert zu einem dämonisch-spritzigen Effekt sondergleichen. Sehen Sie, das ist auf geradezu charakteristische Weise superfiziell wie hintergrunds-
magisch, fesselnd und vielartig, typisch für ein Meister-Netsuke.
Vor kurzer Zeit erschien der Meinertzhagen Card Index, der sich im Besitz des Britischen Museums befindet, als zweibändiges und empfehlenswertes Werk. Meinertzhagen (MCI in der Literatur im Anhang) hat allerdings die Eigenart, bei bald jedem besseren Netsukeshi zu bemerken, daß jede Menge Fälschungen seiner Netsuke in Verbreitung seien. Nun entstammt Meinertzhagen, eines der Netsuke-Sammler-Denkmäler, einer in einer bestimmten Beziehung sehr viel engeren Netsuke-Welt als sie das heute ist. Früher war man, natürlich aus kolonialistischem Blickwinkel, sehr stark auf eine ausschließlich europäische Interpretation fixiert und hatte Schwierigkeiten, das genannte kreative Kopistenphänomen der ostasiatischen Kunst in seiner wahren Bedeutung zu verstehen, nämlich als einen sehr konsequenten traditionsgebundenen Lernprozeß und einen unübersehbaren Variantenreichtum als Folge. Nicht eitel gebärende Genieblitze, die relativ isoliert dastehende singuläre Werke warfen. Das gab es in diesem Sinne nicht so, aber in der Netsuke-Kunst auf jeden Fall die zumindest genial anmutenden Einfälle (und dazu die extrem ausgefeilten Arbeiten) innerhalb der größeren übergeordneten Konventionen. Genaugenommen müßte eine genealogisch lückenlose Abfolge von einer bestimmten Künstlerfamilie (es gibt sie auf anderen Gebieten in Japan über Jahrhunderte hinweg, bei den Netsuke sind die Masanao von lse u.a. ein bekanntes Beispiel) bald nach ihrem Begründer (der sehr oft der herausragendste Charakter war) nur mehr aus Fälschungen bestehen. Denn die hielten sich alle sehr hautnah an das einmal Ausgebrütete, das wie ein Schöpfungsei oder Leitgestirn über dem Nest des Clans hing und seine mehr oder weniger bindenden lnspirationsschwingungen ausstrahlte. Wir sind also heute im Werten von sogenannten „Fälschungen“ aufgrund eines viel offeneren Horizontes des Verstehens ganz woanders angekommen und wesentlich konkreter geworden. Schlechte Arbeiten sind ebenso leicht zu erkennen wie echte Fälschungen in fast allen Fällen auch. Die verbreiteten Hongkong-Netsuke sind
kaum als Fälschungen zu betrachten, sondern einfach als Mist. Wer es nicht gleich sieht, dem stößt wahrhaftig kein Unglück zu. Ich komme abschließend zu einer ganz anders gearteten „Grenzenlosigkeit”, wie bereits versprochen. Den Netsuke ist es auf sehr sonderbare Weise eigen,
sich ab einer bestimmten Zeit (und die ist bis heute herauf wirksam) geradezu wie eine Explosion über die halbe Welt ausgebreitet zu haben, so radikal, daß man in Japan nahezu überhaupt nicht mehr wußte, was ein Netsuke ist und sich überall (früher in der weitgehend westlichen, heute aber wirklich schon in der ganzen Welt) Sammler und Sammlungen vermehrten. Unser heuriges Netsuke-Symposium spielt sich zur Hälfte in Budapest ab. Das wäre kaum so gekommen, hätte sich dieses Land in jüngster Zeit nicht immer mehr geöffnet und gäbe es nicht in Budapest Netsuke-Sammler genauso wie interessante Bestände in den dortigen Museen. Der Aufbruch unseres Nachbarlandes besitzt übrigens eine Zukunftsdimension, von der die wenigsten Osterreicher den Ansatz einer Ah-
nung haben. Aus der Netsuke- Perspektive waren wir dort von der Freundlichkeit und dem unaufdringlichen sachlichen Wissen begeistert. Fern von jeder musealen Kleinkrämerei reichte man uns die Netsuke-Hand. Kedveli Ön Netsuke-t- lieben Sie Netsuke, ungarische Netsuke? Netsuke können eben, nicht nurüber so viele Grenzzäune hinweg, wie grenzenlos erscheinen. Diese Anmut
macht sie uns kostbar.

WOLFMAR ZACKEN

* Eine Variante aus Anlaß, weil das Netsuke-Symposium 1989 erstmals teilweise in Bu-
dapest stattfinden wird. „Lieben Sie Netsuke?”

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KUNST DER BASTAR – STAMMESVOLK AUS INDIEN

Eigentlich eine recht vertraute Sache, wenn man in diesen Breiten des weiten südöstlichen Asien eine gewisse Erfahrung und Kenntnis von den Stämmen hat, wie sie aussehen, wie sie gekleidet sind, wie sie hausen, wie die Natur aussieht, in der sie wie eingebettet leben, die sie nährt und zugleich versteckt hält. Es sind großartige Abenteuer, durch die Urwälder zu fahren, besser gesagt zu gleiten, denn das Boot ist noch immer das beste Mittel, voranzukommen. Die vielen Stämme unterscheiden sich, was man aber zu allererst wahrnehmen wird, sind ihre Kleidung und der Schmuck, das vermag – an Qualität, Extensität, in Einzelheiten – doch sehr unterschiedlich auszufallen. Viele der Stämme haben ihren ganz unverkennbar eigenen Charakter. In Indien wurden die Bastar und die Kondh weitum bekannt für ihre Geräte und Skulpturen aus Bronze, die dort mit einigem Geschick gegossen wurden. Für diese Kunst des Gießens genießen diese Gegenden aber eine Einzigartigkeit, die andere Stämme nicht zu bieten haben. Wo aber genau sind „die Bastar“ zu Hause, wo ist ihr Lebenskreis, der Wirkbereich ihres eigentümlichen Schaffens zu umgrenzen? Das Eigentümliche, Eigenwillige, Seltsame, irgendwie stets irrational und von Phantasmen durchmischt in Erscheinung tretende ist eine unübersehbare Tatsache, zugleich aber eine höchst erbauliche Überraschung.

Es ist doch sehr bizarr – uns selbst sind die Bastar (oder Kondh) seit vielen Jahren einigermaßen vertraut, irgendwie fühlen wir uns fast schon von ihnen wie aufgenommen – obwohl wir noch nie dort – in ihrer Region – gewesen sind. „Bastar“ ist ja auch leicht zu behalten, ich erinnere nur an das „basta, basta“ in so vielen komischen Opern aus Italien, ist geradewegs vertraut, man braucht doch nur ein “r” anzuhängen, die „Bastar“ somit gar kein richtiges Fremdwort … Wir befinden uns ziemlich genau im Kern Indiens, das insgesamt – von ganz oben bis ganz untenhin – eine Form hat, die annähernd einer Mangofrucht ähnelt. Nur ist der „Kern“ – die Region der Bastar – wesentlich kleiner als vergleichsweise der Mangokern es wär. Ziehen wir zwei mittlere Linien durch Indien, eine vertikale, eine horizontale, wir weben somit ein Fadenkreuz. So liegen die Bastar von diesem Kreuzungspunkt ein wenig südlicher und etwas östlich. Würde man von Bombay auf horizontaler Linie Richtung Osten wandern, so käme man in den südlichen Bereich der Bastar. Hätte man noch die Kraft in den Beinen weiter zu ziehen, so käme man (nach ungefähr 200 km) an die Küste der Bucht von Bengalen. Die Region der Bastar liegt also genau zwischen den Grenzen von Maharashtra und Orissa, geradezu wie eingeklemmt, innerhalb eines nach Süden sich erstreckenden Fortsatzes vom Bundesstaat Madha Pradesh. Die genannten Kondh schließen an die Bastar östlich an, ihr Lebensraum liegt aber bereits im indischen Bundesstaat Orissa. Die südliche Grenze der Bastar-Region stößt an Andhra Pradesh. Siehe die auf der nächsten Seite  abgebildete Karte.

Es seien ein paar wichtige Dinge hervorgehoben und vorangestellt. Die reiche Abwechslung in den verschiedensten Formen der Wiedergabe als Bronze erweist das erste durchblättern der Bilder diesen Artikels. Die Motive wechseln dagegen nicht so sehr. Es wird sogleich auffallen, daß „Göttinnen“, ganz einfach stehend, oder in der recht ungewöhnlichen Darstellung „auf Schaukel“, also das Schaukelspiel genießend, ganz besonders beliebt sind. Beinahe wirft der Verdacht seinen Schatten, daß hier für den süßlichen „Geschmack“ touristischer Massen ein gut verkäufliches Motiv produziert wurde. Heute vielleicht, oder es ist sogar sehr wahrscheinlich, zur Hollywoodschaukel eine Göttin auf Schaukel im Garten. Die Eigentlichkeit des Motivs aber betreffend (und unsere Beispiele bezogen auf Ihre Provenienz) – nein! Denn die Schaukel, Jhula genannt, auf der die Göttin sitzt, ist kein Spielzeug! Die Bronzen der Bastar sind ohne Ausnahme kultbezogen, d.h. ihre Destination ist ausschließlich der Kult. Und wenn Elefanten auf Rädern fahren, dann ist es kein Spielzeug, ein „Zeug“ schon, aber eben ein „Himmelsfahrzeug“ und nichts anderes, ein Vahana also, ein Vehikel. Bronzen sind für die Bastar eine Kostbarkeit gewesen. Aus unserer völlig übersaturierten, diesbezüglich bereits jämmerlich deformierten Sichtweise ist das kaum mehr einigermaßen adäquat zu beurteilen, es ist aber sehr notwendig, um die Besonderheit dieser gegossenen Werke zu erfassen. Ein Weiteres sei hervorgehoben, es betrifft die Ikonographie, also die Erklärung der Bildwerke, den mythologischen Inhalt. Er ist manchesmal sehr einfach und hat irgendwie Prägnanz, ist sehr oft aber mehr verschleiert, nicht wirklich zu enträtseln (bzw. zu „definieren“) und vielfach reduziert auf eben nur „Göttin“ oder „Gottheit“ oder „Krieger zu Pferd“, wobei es sich um doch keinen normalen „Krieger“ handelt, sondern um eine lokale „Schutzgottheit“. Auch ist nicht immer vollkommen überzeugend zwischen einer Göttin und einer eher männlichen Gottheit zu unterscheiden. Die Zustände schweben – in einer Art Lichtwolke, erfüllt vom Mysteriösen, aber wenig weit über dem Boden, sie erreicht kaum die Krone der Bäume, so scheint es, so sehr grundsätzlich erdbezogen ist diese kleine Welt tiefer Empfindungen. Aber das hat für uns seine ausgesprochen eigenen, sehr eigenen! – Reize, siehe im nächsten Absatz.

Göttin mit Dreizack

Göttin mit Dreizack

Erdbezogenheit, ja, immer steht das mit einer Erdgöttin, ein Allmutter der Natur, die mit der Erde, dem Fruchtboden, gleichgesetzt wird, in Zusammenhang. Von „oben“ (also vom Himmel), da kommen Sonne und Regen, aus der Erde räkelt und streckt sich aber, gedeiht alles Greifbare, das das Leben erhält, jedenfalls eine Zeit lang. Immerhin. Nehmen wir uns das obere Bild, eine Göttin mit Dreizack vor. Ihre Schultern athletisch, oben exakt gerade, der ganze Oberkörper ein Dreieck, das zwar nach unten keine Spitze bietet, jedoch eine sehr enge Taille. Die dann in schon betörend breite Hüften übergeht. Säulen, kurz, stärkstens erdverbunden. Die Brüste? Die gewaltige Hakennase kündet rein gar nichts Feminines, die schmuckumflossenen Knöpfchen auf der Brust auch nicht. Manchesmal spitzer, weiter nach vor stechend, nur selten fülliger, auf der Umschlagrückseite, da ist ein richtiger „Busen“ vorhanden, aber das ist – es ist doch zum Schmunzeln! – auch keine richtige Gottheit. Die Attribute des oberen Bildes sind – man wird solche in anderen Bronzen des öfteren vorfinden – Dreizack und Federn vom Mayura. Wie man weiß, ist in Indien der Hinduismus vorherrschend. Die eigentliche „Naturreligion“ der Bastar ist natürlich animistisch, zugleich aber auch ein gewisser Einfluß, eine Bemerkbarkeit der großen brahmanischen Religion ebenso gegeben. Zwei Gottheiten aus ihr drängen sich unter den Darstellungen der Bastar in den Vordergrund, sich lassen sich hervorschälen, wenn der Zusammenhang auch nicht immer ganz glasklar ist. Es ist die Hochgottheit Shiva und seine Gattin Durga. In Nordindien ist der Dreizack Trisula das charakteristische Attribut des Shiva, der genannten Bronze und anderen Wiedergaben von Göttern macht er sich bemerkbar. Die Federn vom Pfau (Mayura – ein Glossar befindet sich am Katalogende) sind stilisiert, man könnte auch ganz anderes an ihnen erkennen, etwa einen kleinen Schellenbaum  oder einen dekorativ versüßten „Donnerkeil“. Aber es bleibt beim Mayura, es ist ein Bündel seiner Schwanzfedern, sie verkünden Unsterblichkeit, was einer Gottheit zweifelsohne zukommt. Nun figuriert der Pfau in den Bastar-Bronzen recht häufig, sei es als Feder oder in ganzer Gestalt. Zweifelsohne nimmt er die Position eines „Sonnenvogels“ ein, die ansonsten Garuda hat. Im Hinduismus ist der Pfau u.a. ein Begleittier der Shri Devi, einer Gattin des Vishnu. Möglicherweise spielt innerhalb dieser gewissen Armut an genaueren Konturen diese von irgendeiner Seite auch herein, jedenfalls kommt sie vor, nämlich in der seltsamen Gruppe der „Sieben Mütter“ (es sind natürlich Göttinnen), die sich – brav gereiht und mit winzigen Brüsten im unteren Bild befinden. Die Abbildung rechts erlaubt uns einen eindrucksvollen Blick auf Dreizack und Busch aus Pfauenfedern.

Verbleiben wir kurz bei den „Müttern“. Diese Sieben werden Saptamatrkas oder Saptamataras genannt, in jedem Fall handelt es sich um Shaktis aus dem Hinduismus. „Shakti“ könnte man ganz ernsthaft – nach der neumodischen Ausdrucksweise – als „Powerfrauen“ der Götter übersetzen. Beispielsweise finden sich unter ihnen Brahmani, Lakshmi, Indrani, Camunda etc. Als die Muttergottheit „par excellence“ (wie es im Iconographic Dictionary von Gösta Liebert steht) wird aber die Durga, Shakti von Shiva, bezeichnet. Und gerade sie scheint eine Lieblingsgottheit der Bastar zu sein, jedenfalls läßt sie sich immer wieder einigermaßen genau identifizieren, da sie etwas zu tun das Recht eingeräumt hat, das anderen nicht zusteht – wie das Reiten auf einem Elefanten (im rechten Bild zu sehen)> Sie ist eine Avatara (ein Erscheinungsbild) der Durga, dieser Gemahlin des Shiva. Sie hat bekanntermaßen eine Fülle an Namen und vermag sich in fast ebensolcher Fülle an Varianten zu zeigen, darunter auch furchterregende, eines ihrer vielen möglichen Attribute ist der Dreizack, auch das Schwert (Khadga) kommt vor, unter den Bastar-Bronzen überhaupt eine ausgewiesene Beliebtheit. Danteshvari ist nicht nur eine Muttergottheit (par excellence), sie ist auch stärkstens als „Erdgöttin“ identifiziert. So manche Darstellung, die man aufgrund unseres Triebes nach Präzisheit nur als „Göttin“ oder gar nur als „Gottheit“ titulieren kann, könnte durchaus eine Danteshvari sein. Aber eines der Probleme ist, daß sie eine Reihe von Schwestern hat, die alle als gewisse Muttergöttinnen figurieren. Aber es gibt ein sehr hübsches Entkommen aus diesem Dornendickicht – den Begriff „Mauli“. Er hat nichts mit unserem „Maul“ zu tun, obwohl man an so manchen Gesichtsdarstellungen von Gottheiten allzu gerne von einem „Maul“ (oder „Mauli“) sprechen würde. Mit Mauli bzw. Mauli Devi ist „Göttliches Mütterchen“ gemeint, eine Bezeichnung, die auch ganz allgemein für eine Göttin (Devi) angewendet sein kann. Danteshvari tritt als eine Art Staatsgöttin auf und als solche kann man sie Mundramauli nennen. Bemerkenswert ist, daß „Mauli“ genaugenommen das Höchste von allem ist, beispielsweise auch ein Juwel frontseits in einem Diadem, man kann es „Maulimani“ bezeichnen. Auch das passt zur Danteshvari.

Krieger zu Pferd

Krieger zu Pferd

Fast gewinnt man den Eindruck, sie ist ohne jede Konkurrenz, wie überhaupt die Göttinnen allgegenwärtig sind. Dann aber wieder wendet sich die Stimmung schlagartig, fast fühlt man sich in den Wilden Westen versetzt, ein einsamer Reiter trabt einher, er hält allerdings ein Schwert in einer Hand, stets mit gebogener Klinge. Das Roß meist trutzig, der Krieger auf ihm in makellos lotrechter Haltung. Das Schwert läßt sogleich an den „Vater des Schwertes“ denken, eine Bezeichnung für Khandoba, der auch „König des Schwertes“, Khanderaya, genannt wird. Er ist eine sehr verbreitete Gottheit und steht in engem Zusammenhang zu Shiva, er gilt als eine Avatara dieser Hochgottheit aus der Triade. Khandoba ist gerne auch mit einer seiner Gattinnen hoch zu Roß unterwegs. Sitzt sie hinter ihm, so ist sie Banai, befindet sie sich vor ihm, so ist sie seine erste Frau Mhalsa. Banai war eine wohlhabende Hirtin, sehr amüsant ist, wie er sie kennen lernte. Schon von ferne verliebte er sich in sie, trat in ihre Dienste, ward also ein Hirte, sodann erschlug er ihre angeblich 900.000 Schafe ausnahmslos. An diesem Akt hat Banai die Gottheit erkannt, erzählt die Legende. Das Blöken aller wieder ins Leben zurückgerufenen Lämmern soll sodann die Hochzeitsmusik gewesen sein … Bemerkenswert ist auch, daß zwischen Shiva und Rudra (möglw. der „Wilde“, eine alte Sturmgottheit) enger Zusammenhang besteht, eine schreckliche Form von Shiva wird auch als Rudra-Shiva bezeichnet), aber ebenso zu Khandoba und von diesem wiederum zu Rao, einer Schutzgottheit. Möglicherweise verlaufen hier Fäden von Rudra zu Rao. Eine sehr eindrucksvolle (als auch witzige) Darstellung von Rao, dessen Attribute Schwert und Schild sind, findet sich im oberen bild. Der „kleine“ Rao sitzt mit der krummen Klinge auf dem riesigen Pferd, dessen Kopf so ziemlich alles an Witz und Parodie übertrifft und – wie auch in der dortigen Beschreibung vermerkt – taucht zu aller Verblüffung der wahrhaftige Don Quijote vor unser Augen urplötzlich auf! Aber man wird eine ganze Menge an amüsanten Einzelheiten auffinden können, ein sehr typisches Merkmal fast aller Bastar-Bronzen, deren Facettenreichtum in dieser Beziehung im Amüsanten richtig schwelgen läßt. Einerseits erscheint dadurch auch die Ungenauigkeit der Ikonographie sehr verständlich, farbiges Spiel des Fabulierens und erfindungsreichen Veränderns stehen im Vordergrund, ebenso eine grundsätzlich naiv gestimmte Fröhlichkeit, die den Lebenskern bildet. Man darf aber nicht annehmen, daß Götter hier parodiert werden, also auf irgendeine Weise ins Lächerliche gezogen, der Witz steckt viel mehr in einer ganz unschuldigen Ausdrucksweise, die in dieser Stammesregion das Leben selbst ist, sein Herz und Pochen, das diese Kreationen hervorbringt.

Stehende Göttin

Stehende Göttin

Man wird im Dekor oder in bestimmten formalen Eigenheiten der Bronzen aus dem Stammesgebiet der Bastar immer wieder Ähnlichkeiten bzw. ziemlich stereotype Wiederholungen vorfinden, dazu zählen u.a. die oftmals so sehr dürren Arme, daß sie nichts weniger als grotesk wirken. Auch die überbreiten „Mäuler“ gehen in diese Richtung, aber es muß nicht immer so sein. Äußerst häufig vermag man den Spiralen zu begegnen, möglicherweise das häufigste Motiv, vermutlich ein von der Sonne abgeleitetes kosmisches und somit „göttliches“ Symbol. Die Khappar, Schalen, die für die rituelle Geschenkgebung an die Götter in Gebrauch waren, werden in Händen gehalten oder befinden sich – sehr eigenartigerweise – auf den Köpfen derer, denen geopfert wurde. Sie wirken (auf uns) eher als eine Kopfbedeckung oder so ähnlich, wie in manchen Ländern auch heute noch Frauen Körbe auf ihren Köpfen tragen und damit zu Markte spazieren. Aber diese Khappar sind in der Regel mit Spiralen versehen, manchesmal auch an ihren Rändern rundummit vielen kleinen verziert, wie die rechte Bild zeigt. Die Abbildung unten gibt das Ohr des Elefanten rechts daneben wieder, das auf seiner großen Fläche zwar keine Spirale bietet, aber von vielen kleinen auf verspielte Weise umrandet ist. Zur Spirale muß auch gesagt sein, daß sie sich von der Shankha ableitet, der Tritonsmuschel, die ein Attribut Vishnus ist (als Waffe hat er sie im Kampf gegen die Dämonen gebraucht), aber unter bestimmten Voraussetzungen auch von Shiva. Weiters ist sie ein gewichtiges Sinnbild der weiblichen Fruchtbarkeit, was gerade das obere Bild – diese stämmig-fruchtige Darstellung einer Göttin – sehr deutlich und wirkungsvoll erkennen läßt und die Spiralen auch als ein „göttliches, sonnengleiches Motiv“ hervorhebt.
 

Ohr des Elefanten

Ohr des Elefanten

Bild

War gerade von einem Elefanten die Rede, so sei bemerkt, daß unter den Bronzen der Bastar einige Tiere immer wieder vorkommen. Es sind nicht besonders viel verschiedene, anführend sind jedenfalls der Elefant und das Pferd, sodann der Pfau. Weniger oft treten der in Indien weitum bedeutende Nandi auf, der immerhin das Symboltier der Gottheit Shiva ist. Der Stier für sich wird Vrshan genannt, nur der weiße Stier ist ein Nandi (was „der Glückliche“ heißt). Die Schlange kommt sicher viel öfter vor, als daß man sich ihrer wirklich bewußt werden kann, da sie oft auf das mehr oder weniger Ornamentale reduziert ist, eine Schlangenlinie mit Köpfchen vorne, im Prinzip kann es sogar eine Art Spirale sein, denn die Naga symbolisiert den großen Kreislauf der Zeiten. Diese Kobras gelten als halbgöttlich, sie spielen eine wichtige Rolle und werden in bestimmten Gegenden verehrt. Oft spannen die Nagas – die auch vielköpfig erscheinen – ihren großen Schirm schützend über Gottheiten und – wie man weiß – ist das auch an Buddha zu einer bestimmten Gelegenheit der Fall. Eine Kobra als eine einzelne Bronze – wie in dem unteren Bild – kommt eher seltener vor. Vielleicht war es doch nicht so sehr überzeugend, eine gefährliche Schlange als einen Schutzgenius zu preisen. Von prominenter Erscheinung ist uneingeschränkt der Elefant, in alter Zeit ein ausschließlich den Königen vorbehaltenes Reittier. Er ist ein Sinnbild der Mächtigkeit, des Unbesiegbaren, natürlich auch des Reichtums, aber zugleich auch des ausgeglichen Weisen. Was weniger bekannt ist, aber im Zusammenhang mit der Göttin Danteshvari, die im Kreis dieser Bronzen den Gaja exklusiv als Vahana nützen darf, von Wichtigkeit erscheint – er ist auch ein Symbol der Fruchtbarkeit. Elefanten sollen nämlich den Regen anziehen und man muß sich auch der Göttin Lakshmi erinnern, die sich in so manchen  Darstellungen (nicht im Kreis der Bastarbronzen) von zwei Elefanten begießen läßt. Recht seltsam ist auch, daß der Elefant einmal eine Naga gewesen sein soll, sein Rüssel ist der Grund! Es ergibt sich also ein reizvollst dicht gesponnenes Netz, ein farbiges Gewebe mit vielen verzweigten, natürlich nicht immer gleich einsehbaren Bedeutungen.

NAGA

NAGA

Der Mann, der üblicherweise hinter dem Kopf des Elefanten sitzt, ist der Mahout, der Steuermann. Er hat ein Gerät in Händen, das Ankusha genannt wird, der sogenannte „Stachelstock“, mit dem er den Dickhäuter dirigiert. Bemerkenswert ist nur, daß dieser Ankusha ein Attribut verschiedener Götter sein kann, voran des Skanda, auch des Shiva oder Indra, und des Ganesha. Diese elefantenköpfige Gottheit kommt – als seltene Darstellung – in dem rechten Bild vor, in der er sich mehr als eine Reichtumsgottheit darbietet.

Stehende Göttin

Stehende Göttin

Er hat neben sich nämlich eine Ratte oder eine Nakula, das ist ein Mungo, bekannt als Attribut von u.a. der Reichtumsgottheit Kubera. Wie man weiß, richtet sich das nach der Gegend, ob man in dieser vom Mungo Kenntnis hat oder nicht, von Ratten jedenfalls ziemlich sicher (in Japan beispielsweise ist nur die Ratte das Symboltier der dortigen Reichtumsgottheit). Interessant ist, daß die Nakula über die Schlangen wachen, welche wiederum die Kontrolle über die Schätze in der Erde Tiefe ausüben. Über den Pfau wurde bereits geschrieben, seine zu Spiralen stilisierten Schwanzfedern kommen in diesen Bronzen oft vor. Da der Pfau Unsterblichkeit bedeutet, so sind zwischen seinen „Spiralen“ und den anderen, die auf das „ewige Kreisen“ hinweisen, Zusammenhänge erkennbar. Pferde sind beliebte Bastar-Motive, sie sind Reittiere von Schutzgöttern, die in der Regel eine Klinge oder gleich zwei gezückt halten. Wie weit den Bastar bewußt war, daß Pferde den Wagen des großartigen Sonnengottes Surya ziehen, ist uns natürlich nicht näher bekannt. Pferde können in den Darstellungen aber oft reich geschmückt mit Spiralen sein, wie u.a. die Bronze im Bild unten veranschaulicht. In dieser greift das Tier ungewöhnlich energisch aus, diese Kraft ist auch dem göttlichen Krieger eingepflanzt, eine beeindruckende Geschlossenheit! Tragen Pferde auch noch Achsen mit diesen seltsamen Rädern daran (das Bild “Krieger auf hohen Pferd mit Rädern” bietet das – mit schwer bewaffneter Gottheit auf dem Roß!), dann ist überhaupt ein perfektes „Himmelsfahrzeug“ gegeben.

Krieger zu Pferd

Krieger zu Pferd

Krieger auf hohen Pferd mit Rädern

Krieger auf hohen Pferd mit Rädern

Wie bereits deutlich vermerkt, handelt es sich um keine Spielzeuge, es sind ausschließlich Darstellung, vollkommen vernetzt zu den kultischen Bedürfnissen. Diese Bronzen wurden von eigenen Gießern gefertigt, Spezialisten, die herumzogen, also ambulant vorgingen, die teils aber auch seßhaft waren. Die Bildnisse von diversen, vielfach lokalen Gottheiten, teils auch Gegenständen bzw. Geräten, wurden nur auf Bestellung hergestellt und wurden dann an den heiligen Orten, in Tempeln oder Schreinen bis hin zu kleinen Hausaltären „geopfert“. Dort standen sie nicht ewig, das hätte mit der Zeit die Plätze überfüllt. Es wurde wieder eingeschmolzen und neu geschaffen. Eine neue frische strahlende Ikone (ohne schwärzliche Rußpatina vom Räuchern) hat weitaus mehr Kraft als eine längst vergangene, vergessene, ermattete. Damit hängt zusammen die sehr unterschiedliche Zusammensetzung dieser Bronzen, wie man aus Tabellen von Metallanalysen ablesen kann. Wenn in einer unserer Bronzen von einem vermutlich höheren Gehalt an Zinn und Eisen geschrieben ist, so ist das nur der Farbe des Metalls entnommen. Höherer Zinngehalt zieht immer Eisen mit sich, dessen Anteil dennoch höchstens an die zwei Prozent erreichen kann. Mit dem Magnet ausgerüstet vermag man da gar nichts festzustellen. Natürlich ließe sich darüber mehr schreiben, über Vieles innerhalb dieser kleinen, aber doch erstaunlich eigenartigen Kunst der Bastarbronzen ließe sich weitaus mehr noch berichten oder in Einzelbereichen ausbreiten. Es wird dem Neugierigen sogleich auffallen, daß jede Darstellung anders ist. Es ist also keine serielle Fabrikation gelaufen (so wie das vermutlich heute für den touristischen Abnehmer der Fall sein wird), sondern es wurden Einzelstücke hergestellt, es wurde geschaffen. Das stets Abweichende, immer wieder andersartig Entstehende, das vom starken Glauben an das spirituell Erfüllte beherrschte Hervorbringen, das ist allen diesen Göttern – ob sie nun kerzengerade unter einer bedeutungsvollen Aureole stehen oder beschwingt das Schaukeln durch die Lüfte genießen, ob sie männlich oder weiblich sind, ob martialisch oder perfekt fruchtig – anzusehen. Sie amüsieren uns, sind sogar witzig, sie geraten sogar in stupende Nähe zu parodistischer Deformation – sie verbleiben jedoch stets der Fetisch, der magische Zauber, der in ihrer gottgeweihten Seele steckt, der ihnen alle Kraft verleiht, die sie spiegeln und die zu erfassen vermag. Zusammen mit dem sprühenden Reichtum an Phantasie, der sich hier anbietet und man sich aus unserer Sicht gar nicht leicht tut zu verstehen, was diese Menschen angespornt hat, diese einfallsreich-merkwürdige Welt dieser Bronzeskulpturen immer wieder zu schaffen, lebendig sein zu lassen und zu kreieren, bis in die jüngste Neuzeit. Damit ist das Kapitel aber abgeschlossen. Die heutigen Bronzen sind nicht mehr die alten, auch diese Welt hat ihr Ende gemacht.

Noch ein kurzes Wort zur Sammlung. Es sind genaugenommen zwei, eine große, eine kleinere, die Bronzen aus der kleineren stammen zu einem Gutteil aus der größeren und wurden über unsere Galerie bereits vor Jahren erworben. Die „große Sammlung“ eines Österreichers, der längere Zeit in Indien seinen Beruf ausübte, wurde in den Achtzigerjahren angelegt. Die Abbildung zeigt den Sammler Kaufmann anläßlich eines später erfolgten Besuches in der Region der Bastar. Ein großer Anteil dieser bedeutenden Sammlung an Bastar-Bronzen, aber auch andere Bestände aus dieser privaten Wiener Sammlung befinden sich heute im angesehenen Museum Rietberg in Zürich. Ein kleinerer Teil der Bastar-Sammlung konnte von uns angekauft werden und bildet – wiederum zu einem Teil – die Ihnen vorliegende Auswahl. Es muß noch darauf hingewiesen sein, daß die Möglichkeit, ältere oder sogar alte Bronzen der Bastar – die immer schon selten gewesen sind und zunehmend seltener werden (die relative „Häufigkeit“ in vergangenen Jahren in unserer Galerie wurde ausschließlich von dieser Sammlung versorgt) – damit erschöpft sein wird.

WOLFMAR ZACKEN

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Large Maravijaya Buddha

 Large Marajivaya Buddha

Maravijaya Buddha

Sehr gut (trotz aller Statik!) belebtes Bildnis auf hohem, gestuftem Sockel und größtenteils blattvergoldet. Die Technik (eine Spezialität Burmas) wird Man-paya genannt, bei uns „Trockenlack“ (der Vorteil ist die Widerstandskraft – keine Holzrisse – und ihr geringes Gewicht). Der vielfach gestufte und mit vergoldetem Relief (florale Muster) versehene Sockel symbolisiert den mythischen Berg Meru, auf dessen Plateau sich ein riesiger Stupa befindet – hier durch Buddha präsentiert. Die Komposition der Figur ist beachtlich – äußerst dicht gefügter Lotussitz (Padmasana), senkrecht gehaltener, jugendlich-heldenhafter Oberkörper, der – so wie auch der Kopf – gelängt ist. Die dekorativ ausgeführte Samghati verläuft bis zum Nabel. Der konisch hohe Ushnisha und die finale Lotusknospe evozieren wiederum den Stupa. Das Gesicht ist ganz juvenil und sehr lebensnah gestaltet – aufmerksamer, leicht gesenkter Blick, sehr hochbogige Brauen, die deutlich spirituell zum Sphärengewölbe verbinden. Die Handhaltung ist die innerhalb des Theravada-Buddhismus wohl häufigste – die Bhumisparsha Mudra, der Gestus der „Erdberührung“ als Zeichen des Sieges über Mara den Versucher (Maravijaya), ein Ereignis vor der großen Erleuchtung. Insgesamt sehr guter Zustand, kleinere altersbedingte Schäden, Ausbesserungen am Sockelrand, innen Verstärkung. Die im Bildnis angewandte Relieftechnik wird Thayo genannt. Die Man-paya-Technik (Trockenlack), in der die ganze Skulptur gearbeitet ist, soll ungefähr in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ausgestorben sein. Das Zentrum dafür hat sich im Distrikt Shwebo befunden (nördlich von Mandalay).

English:

Extremely animated likeness of meditative Buddha on a high, stepped base and mainly gilded with gold leaf, executed using the man-paya technique (dry lacquer) and with thayo relief. The face is very lifelike and youthful. Very good condition overall, small damages due to age. Improvements to the base rim, inner reinforcement.

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Lifesize Pakkoku Buddha

Lifesize Pakkoku Buddha

Das ist eine der singulären Buddha-Skulpturen, die auf recht merkwürdige, ja eindringsame Weise eine authentisch sehr nahe Vorstellung vermitteln, wie dieser Moment der „Erdberührung“ und des „Buddha-Werdens“, dieses Aufsteigen zu einem transspiritualen „Erwachen“, einer Art metaphysischen Lichtaufgangs, gewesen sein könnte. Wie der Mensch Gautama seine Erhöhung erfuhr und sich das irgendwie nach außen auch ausdrückt. Das ist natürlich vor allem eine Angelegenheit der künstlerischen „Erleuchtung“ und der inspirierten Fühligkeit. An dieser sehr krafterfüllten und in großer Stille zurückhaltend modellierten Skulptur ist das in den Gesichtszügen auf eine erstaunlich verinnerlicht differenzierte Weise niedergelegt. Kopf und Gesicht sind einerseits die eines künftigen Cakravartin*, eines Beherrschers (immerhin formte die große Bewegung des Buddhismus einen beachtlichen Teil der Menschheit), anderseits aber auch bemerkenswert fein und sensitiv gestaltet. Mehr noch – es wird hier tatsächlich der Eindruck eines spürbaren Ereignisses vermittelt, die Schürzung eines dramatischen Funkens, aber fokussiert auf das spirituelle Innenleben.
Gautama sitzt in Paryankasana, der Sitz ist ungewöhnlich krafterfüllt, fast wie ein Felsblock setzt er den darunter befindlichen Berg Meru, den der Sockel darstellt, fort, aber natürlich als ein belebtes Wesen. Dieser Übergang ist beinahe sensationell gelungen, etwa auch das ungewöhnlich reiche Faltenrelief, flach und auf schräger Fläche, es wirkt fast wie die heitere Wellenbewegug einer Wasseroberfläche, die Gefels umspielt. Auch beide Hände sind leicht größer proportioniert und vor allem die Bhumisparsha Mudra (Erdberührung) in ihrer symbolischen Aussagekraft in den Vordergrund gestellt. Die Mutter Erde (die Erdgöttin Bhumi Devi) zur Zeugenschaft aufzurufen (Sieg über Mara, den Versucher) ist sicher nicht alles an Wertschöpfung. Daß Buddha die Erde berührt hat bedeutet – bei einiger Vorstellungskraft – eine Gewichtigkeit von historischer Größe!
Künstlerisch inspiriertes Walten zeigt sich im freien Faltenspiel der Samghati, auch rückseits. Es ist sogar eine Art „Epaulette“ vorhanden, ein seltenes Faltenspiel auf der rechten Schulter des Gautama (die sonst meistens bloß ist) ausgeführt. Die Ohren sind schlank, schulteraufliegend und elegant gekrümmt. Sodann ist ein schmales einfaches Diadem (Stirnband) geschnitten, der Ushnisha ist betont übergangsbündig und kuppelförmig ausgeführt, er sieht hier wirklich noch aus wie ein Knoten des sehr weichen, geschmeidigen (goldenen) Haares. Der Sockel, auf dem Buddha sitzt, ist mit floralem Relief großzügig mit Einlagen in Thayo geschmückt und trägt in mehreren Etagen eng gereihte, streng gerade, oben spitze Lotusblätter, die wie Felsklippen aussehen und den gewaltigen kosmogen ausgerichteten Steilanstieg des Meru vergegenwärtigen. Diverse altersbedingte Schäden an dieser Skulptur, die aus Pakokku** stammt, vor allem im Sockelbereich. Bei frontaler Ansicht ist nahezu keinerlei Beeinträchtigung gegeben. Diese gewissen zerfressenen Stellen (vor allem in der Sitzbeuge) verbinden natürlich zu der tief der buddhistischen Sphäre immanenten Anschauung vom Vergänglichen und auch der Leerheit, von Samsara und Shunyata.

English:

This representation of Buddha brings the viewer ever closer to this transpiritual “awakening”, the becoming of Buddha and the gesture of Dhyana Mudra. The expression of his face is one of a ruler (Cakravartin) and it comes across almost eerie. However his face is also crafted very sensitively and finely.

Very lifelike representation of Buddha from 17th/18th century from Burma/Myanmar

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Japanische Malerei

Irgendwie ist es berauschend, die Kunst zweier sehr weit voneinander entfernten Länder (daran ändert auch nichts die heute relativ kurze Flugzeit) miteinander zu vergleichen und die japanische Bildkunst (gleich welcher Technik) der europäischen gegenüberzustellen. Trotz aller augenscheinlichen (und auch scheinbaren) Gegensätzlichkeit gibt es zwar natürlich auch gewisse gemeinsame Grundsätze, wie die allgemeine wie künstlerische Schaffensfreude, Erfindungskraft und Spontaneität sowie auch die damalige Abhängigkeit vom und zugleich fördernden Einsatz der alten Feudalsysteme, aber insgesamt stechen doch viel mehr ganz markante Unterschiede ins Auge. Die auffälligsten sind das Nicht-Existieren der “Ölmalerei” (auch des Freskos etc.), die Dominanz von Rollbildern, Paravents und Albumblättern (auch die Fächer müssen erwähnt sein), sodann die Malerei mit Tusche (Suibokuga), oder – der einzigartige Hang zur Abstraktion, zum Leerlassen großer Flächen, zur Aussagekraft weniger einzelner Pinselstriche. Tusche und Abstraktion sind hier von der Sparsamkeit allen Einsatzes grundsätzlich ganz Zen-buddhistisch geprägt. Ja, man mag sich daran zu berauschen, wie samt und sonders alles doch sehr unterschiedlich ist und sicherlich auch den besonderen Reiz für uns ausmacht sich mit dieser Kunst näher zu befassen. Weiters sei auch als eine japanische Einzigartigkeit der Farbenholzschnitt erwähnt. Den kannte man bei uns zwar auch (von beispielsweise Dürer bis Munch), die Leistungen Japans in dieser Technik sind jedoch völlig singulär. Wie diese Ausstellung zeigt, lässt sich das Medium des Farbenholzschnittes nicht völlig von der Malerei abkoppeln – immerhin finden sich in dem Katalog zwei Kakemono von großen Exponenten des Druckes – Hokusai und Hiroshige.

Dass die japanische Malerei in unseren Breiten weniger bekannt ist, als vergleichsweise die Richtung des Ukiyoe, der farbigen Holzschnitte, hat seine besonderen Gründe. Einmal ist es einem japanischen Geschäftsmann zu verdanken, der sehr umtriebig eine Unmenge dieser Drucke von Japan nach Paris verfrachten ließ, so viel er nur konnte. Sein Name war Hayashi Tadamasa. Er hatte in Paris im späteren vorvorigen Jahrhundert die Erfahrung gemacht, dass diese farbigen Blätter aus Japan sich bestens verkaufen ließen und veranlasste daraufhin seine Frau in Japan alles aufzukaufen, soviel ihr nur möglich war. Die Holzschnitte seien vor allem deshalb erwähnt, weil es einfach ist, ein Holzschnittblatt in Händen zu halten oder es gerahmt an die Wand zu hängen, ja sogar eine ganze Wandfläche mit mehreren Drucken zu “bepflastern”. Und wie man weiß, können die Einblicke, welche die Holzschnitte Japans vermitteln, ebenso prägnant wie vielgestaltig und neugierig machend sein. Mit den Rollbildern ist es vergleichsweise lange nicht so einfach, schon allein das (richtige) Entrollen, wieder Zusammenrollen und Verstauen eines Kakemono ist dem Europäer nicht vertraut. Ein gerahmtes Bild hängt man bei uns einfach an einen Nagel. Ein längeres Kakemono – da braucht man unbedingt eine Leiter, um die Höhe zu erreichen, hängt die geschlossene Bildrolle ein und läßt sie danach langsam herabgleiten. Oder man rollt sie auf einem länglichen Tisch aus (oder am Fußboden) und mit einem speziellen Werkzeug, das den seltsamen Namen Kakemonokake hat, wird es an der Aufhängung “aufgespießt” und in die Höhe gebracht.

Das gewisse Unvertraute des westlichen Kunstliebhabers im Umgang mit ostasiatischen Rollbildern betrifft die vertikal aufzuhängenden wiederum etwas weniger als die quer verlaufenden. Heutzutage sind Ausdrücke wie “Querdenker” oder “Quereinsteiger” modisch, folglich müsste man einen Liebhaber von Querrollen einen “Quergenießer” heißen. Jedenfalls können Querrollen, die Emakimono genannt sind (oder kürzer Makimono, auch Emaki kommt vor), außerordentlich ergiebig und richtig genüsslich sein. Dieses Format florierte in den Epochen Heian und Kamakura (um die erste Jahrtausendwende), die längsten können bis an die 25 Meter lang sein. Im Prinzip ist es nichts anderes als eine Bilderfolge (wie in einem Bilderbuch), nur eben auf eine Rolle gemalt und abzuspulen. Das Betrachten erfordert eine gewisse (aber eben zu genießende) Prozedur. Den meisten Europäern ist das gewiss zu sehr exotisch und unvertraut. Nicht zu vergessen sind auch die Albumblätter (Soshi) und Makimono, beide verbunden zu literarischen Entwicklungen, die ihre intensivste Zeit bereits vor den vertikalen Rollbildern hatten. Bekanntestes Beispiel ist das Genji Monogatari Emaki aus dem 12. Jahrhundert. Zentrum war natürlich Kyoto und der dortige Hof. Die Zeit der Kakemono (vertikale Rollbilder) setzte erst in der Periode Muromachi (14. bis 16. Jh.) ein.

Gegenüber dem Massenprodukt “Druck” bzw. Farbenholzschnitt haben die gemalten Rollbilder doch ihre sehr eigenen Vorzüge. Der große Vorteil der Kakemono ist, dass man leicht wechseln kann, man rollt ein, verstaut es, rollt ein anderes auf (was ein Moment von besonderer Freude sein kann) und hängt es locker an den gleichen Nagel. Das taten auch die Japaner, allerdings (zumindest früher) nur im Tokonoma, einer eigens eingerichteten Nische für wertvolle Bilder und Objekte, eine “geheiligte Kunstnische”, ein Kultplatz des Ästhetischen. Bilder wurden allerdings nicht nur gewechselt um eine subjektive Abwechslung zu haben, sondern in Abstimmung mit beispielsweise der Jahreszeit oder zu bestimmten Anlässen (wobei auch stets die sinnbildhaften Hintergründe einer Malerei beachtet wurden). Je nach Größe eines Tokonoma konnten auch zwei oder mehrere Kakemono angebracht werden. Auch das unterlag gewissen Regeln – man denke nur an das beliebte Motiv Drache und Tiger, das auf zwei Rollbildern dargestellt sein kann, vier mit Bezug auf die Jahreszeiten oder acht, beispielsweise bei den berühmten “Acht Ansichten von Xiao und Xiang”. Diese kommen auch in der Ausstellung vor, allerdings als einzelne Rollen. Wurden eingangs dieses Absatzes die Vorzüge der Rollbilder eröffnet, so gehört vor allem das Malerische hinzu, dem die Holzschnitte – trotz aller raffinierten Versuche (schlussendlich ist dem japanischen Holzschnitt in diesem Punkt der chinesische überlegen) – Gleichwertiges nicht zu bieten haben. Die Malerei des Kakemono vermag insgesamt außergewöhnliche Stimmungen zu vermitteln, die an mystischer Kraft Erstaunliches zu er- und verdichten vermögen (dabei ist es immer eine leicht hingesetzte Malerei) und gerne zu mythisch Erlebbarem (jedoch Unsichtbarem) überleiten. Da tut sich schon eine eigene Welt auf, die ihre Einzigartigkeit hat.

Auch das Ein- und Aufrollen eines Kakemono bedarf einer gewissen Sorgfalt und somit auch einer kultivierten Handlungsweise. Gegenüber den europäischen alten Tafelbildern ist bei dem Kakemono die Erhaltung (und auch Erhaltenheit) ein durchaus etwas heikler Punkt. Ein ganz großer Unterschied zwischen West und Fernost besteht klarerweise in der “Rahmung” der Kunstwerke. Japanische Rollbilder können in einer höchst merkwürdigen Mischung eines einerseits recht schlichten, aber sehr klaren Konzeptes der umrahmenden Montierung (die man Hyoso nennt) ihre Wirkung auf den Betrachter ausüben. Aber zugleich ist auch ein unverkennbarer Prunk festzustellen, wie etwa die Verwendung von Brokat, Damast oder Seide für die Montierung (Seide meist auch für den Malgrund) oder Elfenbein und feines, poliertes Holz für die Roller. Dass sich da ein gewisser Kult entwickelt hat, hat seinen besonderen subtilen Reiz als auch seine Würdigung und durchaus an das Noble gereichende Hervorhebung. Aber stets mit einer sozusagen “astreinen” Ästhetik verbunden, deren Subtilität sich gleich einem seltsam-noblen Fluidum durch Japans Kunstgeschichte zieht. Und weit abseits vom barocken Pomp und der Überfrachtung liegt, wie es bei uns – bei den Rahmungen – mit Schnitzerei und Gold verbreitet war. Es gibt in Japan darum auch genaue Bezeichnungen der einzelnen Teile der Hyoso (der Rollbild-Montierung, der Fachmann dafür heißt Hyososhi). Beispielsweise bezeichnet Ichimonji die kleinen Streifen ober- und unterhalb des Bildes oder Futai die zwei Streifen, die von ganz oben ein Stück vertikal herabhängen. Dieses Spiel zwischen Horizontalen und Vertikalen kann eine berückende Balance bilden, welche die Malerei umspielt, ihr schmeichelt, sie wie ein unter die Lupe genommenes Konzentrat in den ausgewiesenen Mittelpunkt stellt. Die Malerei als ein geehrter Ruhepol, dem aber auch so manche – oftmals virtuos gefasste und auch verborgene – Unruhe innewohnen kann. In dieser Beziehung vermögen sich japanische Malereien auf sehr unerwartete Weise (bis zur Grausamkeit) zu steigern. Denken Sie nur daran, was sich in Ostasiens Kunst und Mythologie alles hinter einem harmlosen Gewölk, einer Nebel- oder Schleierwand verbergen kann! Schlußendlich die Roller (Jikusaki), sie haben hauptsächlich eine praktische Bedeutung, nämlich zum Beschweren (Zug nach unten, damit das Kakemono straff hängt) sowie zum Auf- und Einrollen, damit kein Fett und keine Säuren der Finger auf die empfindliche Seide etc. übertragen werden, auch zum schonenden Verstauen in der Kassette.

Sehr charakterhaft und ganz wesentlich von der Zen-Malerei bestimmt erscheint in der Rollbildmalerei die Konzentration auf ein Hauptmotiv und diesem gegenüber die offensichtliche Leere, welche die eigentliche Darstellung thematisch und qualitativ hervortreten lässt. Im Weiteren wird der Phantasie großer Spielraum gelassen, nämlich Unausgesprochenes (bzw. Unangedeutetes) zu schauen, scheinbar Unvorhandenes – aus der Vertrautheit hervor – sehend zu erleben. Dieser Schein und die scheinbare Leere (hinter welcher – mahnend und unausweichlich – doch stets auch die buddhistische absolute Leerheit steht) sind eine große Stärke und Attraktion japanischer Malerei und Kunst. Eng verwandt dazu ist die Kunst des Andeutens mit einem Pinselstrich, oder einigen. Das wird von bestimmten Malern bis zur Virtuosität beherrscht, wie auch an Arbeiten dieser Ausstellung festgestellt sein kann. Mich erinnert das an Ameisen, die eine Last tragen – umgerechnet auf den Mensch sind es halbe Tonnen. So ungefähr können die Auswirkungen von Pinselstrichen sein, die ein vielgeübter und auf genialische Weise inspirierter Könner hinsetzt. Zugleich ist es ein – mitunter – geradezu unfaßbares Wunder, eine Art von Magie, solches überhaupt zu bewirken. Und dieser Vorgang hat – aufgrund seiner eigentümlich spirituellen Schwerelosigkeit, seines gleichsam vogelleichten Fluges – seinen absolut eigenen Wert und Genuss. Auch hier ist klar, dass dies ein ostasiatisches Phänomen ist, das seine Wurzeln in der gesamten Kultur (und besonders im Buddhismus) hat. Bei uns dagegen sicher nur einer begrenzten Anzahl von Kunstliebhabern – den sozusagen hierfür “Auserwählten” – richtige Freude bereiten wird.

Europäische und japanische Malerei haben eines gemeinsam – dass Entwicklung, Schulen, Namen, Stilrichtungen usf. äußerst verwirrend sein können. Man wandle nur durch eines unserer großen Museen. In Japans Malerei wirkt sich das für uns natürlich noch stärker aus, zumal ja sämtliche Namen von Schulen, Perioden und Künstlern uns meist ganz bis weitgehend unbekannt sein dürften. Jedoch könnte in Kreisen, die eine gewisse Vorliebe für japanische Kunst pflegen, der Begriff “Kano” geläufig sein, also der Kano-Schule.. Der Ursprung der japanischen Malerei findet sich klarerweise in China, und zwar hauptsächlich in der Malerei der glanzvollen Tang-Dynastie, die von 618 bis 905 bestand. Er geht aber noch weiter zurück, weil die erste große Welle buddhistischer Kultur bereits im 6. Jh. (vor allem aus dem Bereich der den Buddhismus sehr fördernden Wei und Qi) von China aus in Japan Fuß fasste und mit ihr auch die Malerei einsetzte. Sie wurde hauptsächlich durch chinesische und auch koreanische Mönche, die nach Japan gezogen sind, vermittelt. Die frühesten Kakemono wurden in Tempelhallen aufgehängt, versehen mit religiösen Inschriften. Das waren Aufforderungen bzw. eben Stimuli, die sichtbar auf den Vorbeiwandelnden einwirken sollten. Somit hatte auch in Japan die Kultur dieser Gasan genannten und kalligraphisch ausgeführten Inschriften ihren Beginn genommen. Das ging übrigens so weit, daß man diese – war die Malerei selbst weniger gelungen – sogar ausschnitt und neu montieren ließ. Aber dass in Ostasien Kalligraphie und Malerei nicht bloß tief miteinander verbunden sind (vor allem im japanischen Zenga wurde das kultiviert) sondern auch als gleichwertig angesehen wurde, ist bekannt. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß in Japan auch vor dem 6. Jh. schon gemalt wurde, so sind beispielsweise figurale Wandmalereien aus Gräbern der Kofun-Periode (ab 300) bereits bekannt.

 (Bild 1) Zenga von Hakuin "Hotei"

(Bild 1) Zenga von Hakuin “Hotei”

Die früheste – aus China befruchtete – japanische Malerei hat ihre erste Reife bereits im 7. Jh. erreicht. Einige großartige Beispiele (Wandmalerei) finden sich im Horyuji in Nara und ebenso auch im Shosoin. Darunter übrigens “Schönheiten unter Bäumen” (genannt Juka Bijin), faszinierend darum, weil auf der einen Seite die Kunst der Tang klar hervortritt (auch der Zusammenhang zu den “Hofdamen”, die wir bereits des Öfteren als Terrakotta-Skulpturen in unserer Galerie bzw. den Auktionen hatten), die Reichweite aber erstaunlicher Weise bis hin zu den Bijin (Bildnisse schöner Frauen) im Ukiyoe weiterführt, wie etwa denen von Utamaros! Aber es würde hier viel zu weit gehen, all dies näher zu beleuchten. Aus den monastischen Zirkeln spielt – auch betreffend das westliche Interesse – die Zen-Malerei (Zenga) eine wichtige Rolle. Zen übt im Westen ja schon seit längerer Zeit eine gewisse Faszination aus, ebenso auch die wesentlich vom Zen geprägte Teezeremonie. Und in dieser findet sich – man staune – ein ganz wesentlicher Ansporn für die Ausbreitung der Rollbildmalerei. Zu den Teezeremonien wurden in den Tokonoma Kakemonos aufgehängt. Kalligraphische Arbeiten von angesehenen Zen-Mönchen bzw. Äbten (etwa damals der vom Daitokuji) galten als ein Ideal. Aus der Teezeremonie verbreitete sich sodann die Tradition des Tokonoma (eine Nische mit erhöhtem Fußboden) und des Aufhängens von Kakemono. Interessant ist auch, dass im 17. Jh. (frühe Edo-Zeit) ein starker Impetus im Zenga durch Mönche der Huangbo-Sekte (in Japan Obaku genannt), die von China nach Japan emigrierten, ausgelöst wurde. Die Mönche des Obaku sind künstlerisch überhaupt sehr vielseitig gewesen, voran standen Malerei und Kalligraphie, aber auch die Dichtkunst. Zur selben Zeit (frühes Edo) wurden eigenartiger Weise Themen der Zen-Malerei auch von den Professionalisten der Kano-Schule übernommen und in ihrer Richtung (und auch eigenen Art) weiter verarbeitet. Es darf noch bemerkt sein, daß Hakuin Ekaku der vielleicht größte Meister des Zenga der Edo-Zeit gewesen ist. In unserer Ausstellung mit Malerei aus China und Japan im Jahr 1992 hatten wir ein Zenga von Hakuin (Bild 1) mit der Darstellung des “göttlichen Mönches” Hotei, der in Japan volkstümlich zu einem Fukujin (Glücksgott) wurde. Dieses Rollbild war übrigens ungefähr 10 Jahre davor im Museum of Fine Arts in Houston ausgestellt gewesen. In unserer Ausstellung wurde es aber fast noch übertroffen von einem Zenga des Fugai Ekun (Bild 2), den manche Kenner sogar höher schätzen als Hakuin.

(Bild 2) Zenga von Fugai Ekun

(Bild 2) Zenga von Fugai Ekun

Innerhalb der japanischen Malerei entwickelte sich ein sehr interessantes Spannungsgewebe zwischen dem starken und sehr maßgeblichen Einfluss der Malerei Chinas und einer klarerweise eigenen Kraft, eine indigene Ausdrucksweise zu bewirken, einen Stil, die nichts anderes als eben ein urjapanischer war. Es ist erstaunlich, daß (nach Ansicht von Kunsthistorikern) diese Ausstrahlung von China nach Japan sich bis ins 19. Jh. ununterbrochen erhalten hat und zwischen den beiden Polen ein dauerhafter Dialog bestand. Den chinesischen Stil nennt man Kara-e (“Chinesische Malerei”), den als weitgehend “japanisch” angesehenen Yamato-e (Yamato ist eine Bezeichnung für das alte Japan). Die Kano-Schule, die gerne chinesische Motive verarbeitete, hat aber genauso ihren eigenen Stil entwickelt, man nennt das die “Japanische Schule der chinesischen Malerei”. Die Maler dieser Schulrichtung sind alles richtige Professionalisten gewesen und im 17. Jh. hatte die Gruppe der Kano-Maler eine eindeutige Prävalenz. Da sie aber eine sozusagen “staatliche” Schule waren, ist der Geschmack des Shogunats und dieses Kreises ausschlaggebend gewesen, aber zugleich auch deren Anforderungen an die zu leistende Qualität.

(Bild 3) Herbstwind über dxen Xiang-Fluss

(Bild 3) Herbstwind über dxen Xiang-Fluss

Zum näheren Verständnis sei auch auf ein besonderes durch und durch “chinesisches Motiv” an japanischen Landschaftsmalereien näher eingegangen, das aber anhand der Darstellung selbst für einen Außenstehenden keinesfalls als solches erkennbar ist. Als Beispiel dazu sei das obere Bild (Bild 3) mit dem Titel “Herbstwind über dem Xiang-Fluss” angeführt. Ohne Hintergrundwissen wird man hier selbstverständlich eine japanische Landschaft annehmen. Der Xiang-Fluss liegt aber im chinesischen Hunan und mündet in den See Dongting, dessen nördliches Ende fast an den Chang Jiang (Yangtse) grenzt. Kano Tanyu hat den originalen Platz sicher nie gesehen. Es handelt sich hier um ein im 13. Jh. in China entwickeltes klassisches Motiv- „Xiaoxiang”, das in acht Ansichten dargestellt wurde. In Japan hat dann der Ashikaga Shogun Yoshimitsu (zweite Hälfte 14. Jh.) begonnen chinesische Landschaftsmalereien zu sammeln, seine direkten Nachfolger setzten fort. Große Maler der Song-Zeit wurden erworben, darunter Muqi oder Zhang Fangru und andere. Der Stil von Muqi hatte seine direkte Auswirkung auf die Kano-Schule, aber ebenso Yujian, der für seinen freien, stärker “gewaschenen” Stil bekannt war. Man sehe sich die Pinselstriche in der Malerei von Tanyu (Bild 3) genau an, um zu verstehen, was mit “gewaschen” gemeint ist. Es ist ein mehr oder weniger stark wasserhaltiger, mehr flächiger Pinselstrich, der vor allem in den vageren Konturen (vage durch Nebel und Ferne), in den verschwimmenden, in gewisser Grenzenlosigkeit sich auflösend zur vollen Geltung kommt. Die Wirkung kann stupend sein, aus Fast-Nichts vermag eine großartige räumliche Atmosphäre, Stimmung und Tiefe zu entstehen. Das setzt natürlich voraus, dass diese Pinselstriche einwandfrei sitzen und besonders darin lässt sich ein sehr bewundernswertes Gewicht von Profession und artistischem Geschick erkennen. Tanyu hat die Tradition der Tuschemalerei (Suibokuga) innerhalb der Kano-Schule zu einer dominierenden Richtung gebracht, es wurde daraus – unter der Schirmherrschaft des Shogunats – die führende Suibokuga-Schule der Edo-Zeit.

Neben der großen Kano-Schule hat es eine Anzahl ganz anderer Richtungen und Schulen gegeben. Gründer der Kano-Schule war Kano Masanobu, der bis 1530 gelebt hat. Ungefähr 70 Jahre vor seinem Ableben war er aus dem Dorf Kano (in Shizuoka, wo sich auch der Berg Fuji befindet) nach Kyoto gezogen. Gelernt hat er im Tempel Shokokuji, wo eine Malschule betrieben wurde, die ganz nach den Meistern der chinesischen Song-Zeit (und Yuan) ausgerichtet war. Interessant an der Kano-Schule ist, dass sie eine Richtung ausbreitete, die zwar aus dem Bereich des buddhistischen Zenga kam, seine Fortsetzung jedoch in voller Unabhängigkeit von Klöstern hatte, denn die Kano-Maler sind rein weltliche Künstler gewesen. Sie standen überwiegend in den Diensten des Shogunats, übernahmen aber auch Aufträge aus Adelshäusern, Klöstern und der wachsenden bürgerlichen Elite der Edo-Zeit, die sich weitgehend aus wohlhabenden Kaufleuten rekrutierte. Der Erfolg der Kano-Schule hat genaugenommen die ganze Edo-Zeit (immerhin ein Vierteljahrtausend lang) angehalten und der Mittelpunkt befand sich natürlich in Edo (das heutige Tokyo). Aber es hat auch andere Schulen an anderen Orten gegeben.

(Bild 4) Matsomuro Goshun Landscape

(Bild 4) Matsomuro Goshun Landscape

Einige japanische Schulen der Malerei sind: Kano, Maruyama, Shijo, Tosa, sowie Maler, die zwar in einer dieser Schulen gelernt haben, sich danach aber mehr frei hielten oder die Richtung(en) wechselten. Oder welche, die keiner dieser im orthodoxen Sinn zugehörten, wie vor allem die Meister der Holzschnittkunst Hokusai und Hiroshige oder Zeshin, der in der Lackkunst Japans spezialisiert war. Man darf diese Schulen auch nicht als allzu sehr getrennt in ihrem Wirken sehen, gegenseitige Anregungen und Überschneidungen sind vermutlich sehr zahlreich gewesen. So sind beispielsweise die Maruyama und die Shijo nicht zu trennen. Die Maruyama-Schule ist auf den großartigen Maler Maruyama Okyo (der eigentlich den Namen Maruyama Mondo hatte) in Kyoto und dessen Nachkommen aus der Familie einzugrenzen. Denn einer seiner besten direkten Schüler, Matsumura Goshun, gründete eine eigene Schule, genannt die “Shijo”, einfach nach der Straße in Kyoto in der Goshun bis ins frühe 19. Jh. Gelebt hat. Sein Signet trägt eine großartige Landschaftsdarstellung im oberen Bild (Bild 4) mit Go-spielenden Gelehrten auf einem Felsvorsprung, umtost von spritzenden Wildbächen. Diese bizarr-phantasievolle Darstellung von einem in der vertikalen aufgebauten Gebirge in einer packenden Komposition mit daneben auch diagonal hinausgreifendem Gefels ziert auch die vordere Umschlagseite.

Die traditionelle Malerei im 19. Jh. in Kyoto war stärkstens von der Maruyama-Shijo-Richtung beeinflusst, weshalb man auch sehr einheitlich von einer Maruyama-Shijo-Schule spricht. Einiges älter als sie ist die Kano und noch älter ist die Tosa-Schule. Ist Kano ein Ort und Shijo eine Straße, so kommt Tosa von einem Titel, den der Maler Fujiwara no Yukihiro besaß – Tosa Shogen. Angeblich hatte diese Schulrichtung ihr Bestehen vom 15. bis ins 19. Jh, die Genealogie der Tosa-Familie soll dagegen bereits zu Beginn des 11. Jhs. ansetzen. Die Schule spezialisierte sich auf den Stil des sogenannten Yamato-e, den ganz japanisch geprägten. Ein weiterer großer Tosa-Meister ist Tosa Mitsuoki, der zu der “Drei Pinsel” Schule zählt, die den Ruhm dieser Schule auf den Höhepunkt geführt haben. Seine Malerei (und auch die des anderen Tosa-Meisters) widmet sich nur dem Blick von Mitsubara auf den Berg Fuji, bewirkt aber eine grandiose räumliche Weite und eine ebenso ausdrückliche Erhabenheit. Der Fujisan, ein profund japanisches Motiv, ein Emblem und dargestellt wie ein geheiligter majestätischer Altar riesiger Dimension. Die Tosa-Schule übte einen sehr großen Einfluß auf andere Schulen aus und – wie man ahnen wird – auch auf die Richtung des Ukiyoe. Moronobu hat den Tosa-Stil bereits dem frühen Ukiyoe des 17. Jh. vermittelt. Am Rand sei nur erwähnt, daß sich angeblich die Tochter von Tosa Mitsunobu (der erste der “Drei Pinsel”, jedoch einige Zeit vor Mitsuoki) mit Kano Motonobu vermählt hat. Motonobu war der älteste Sohn des Gründers der Kano-Schule, Kano Masanobu.

Die Reichhaltigkeit der Malerei Japans lässt keinen Wunsch offen und übertrifft jede Erwartung. Sie ist “atemberaubend”, oder vielleicht sogar “beklemmend”, zumindest für jene, die das Defizit empfinden, als Schaffende hier nicht teilgenommen zu haben. Wie man gesehen hat, existierten die großen Schulrichtungen bis ins 19. Jh., bis an das Ende der Edo-Zeit.1868 war die große Zäsur, die Öffnung Japans und die Restauration des Kaiserhauses, das Ende der Tokugawa Shogunats. Es gab Künstler, die das miterlebt haben, den vehementen Einfluss aus dem Westen, der dann die Kunstwelt (und nicht nur sie) sozusagen überschwemmt hat, der aber auch nicht wenige inspirative Kräfte freigesetzt hat. Neue Künstlergesellschaften entstanden, daneben gab es aber auch den “freien Künstler”, ungebunden und an allem neugierig, mitunter auch ein die Welt Bereisender, der sich seine Anregungen, die seiner Kreativität dienlich waren frei aussuchte. Mit der Meiji-Zeit und dann dem 20. Jh. (in unserer Ausstellung mit einigen Künstlern vertreten) änderte sich sehr viel und wie man wissen wird, war in den Kunstbereichen so manches für immer beendigt. Beispielsweise das gesamte Ukiyoe, oder auch die Kunst der Netsuke oder der Schwertzierate usf. Die Netsuke beispielsweise einfach deshalb, weil plötzlich westliche Kleidung und keine Kimono mit Netsuke am Gürtel (auf der Straße) getragen wurden. Westliche Leinwand und Ölfarben faszinierten so manchen Maler sodass die alte wässrige Malerei auf Papier oder Seide dadurch auch zunehmend verdrängt wurde. Natürlich ist das in jedem einzelnen Fall sehr unterschiedlich gehandhabt worden. Beispielsweise der Maler Fukada Chokujo. Er hat von 1861 bis nach dem 1. Weltkrieg gelebt und hat noch bei Sobun im Stil der Shijo-Schule gelernt und dann die Tradition der sogenannten Maruyama-Shijo-Schule (er begründete in Osaka ein eigenes Studio) weitergeführt.

(Bild 5) Zeshin- Tusche und Farbe

(Bild 5) Zeshin- Tusche und Farbe

Mit einem sehr eigenen Künstler sei der letzte Absatz eingeleitet. Shibata Zeshin hat zwar das 20. Jh. nicht mehr erlebt, seine Zeit ist aber fast flächendeckend über das ganze 19. gespannt und er wurde zum vielleicht bekanntesten japanischen Künstler desselben. Erwähnt sei er deshalb, weil er zu einem Synonym für höchste Qualität sowie Vielseitigkeit wurde. Ein sehr selbständiger Vorzeige-Künstler elitären Anspruchs. Aber er war kein ausgewiesener Maler, sondern in der Hauptsache ein Lackmeister. Nun hat man bei uns von “Lack” zumeist eher seltsame Vorstellungen. Die klassischen japanischen Lacktechniken nennt man Maki-e, wörtl. “Streubild”. Aber das obere Bild von Zeshin (Bild 5-) ist mit Tusche und Farben gemalt. Seine bekanntesten Arbeiten sind jedoch Maki-e, beispielsweise auf Suzuribako oder Inro. Vermutlich inspiriert durch die westliche Ölmalerei wurde er im Alter zunehmend zu einem “Lackmaler”, er malte also (selbst auf Papier) mit dem Lack Saft vom Lack Baum und machte damit so manche Preise auf Ausstellungen. Bekannt von ihm ist auch ein großes Lack Bild mit dem Thema des Fujisan, das Zeshin für die Weltausstellung 1873 in Wien geschaffen hat (um den Berg für die Arbeit allernächst zu erkunden, hat er ihn mit 66 Jahren eigens erstiegen).

WOLFMAR ZACKEN

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DIE AHNEN UND DAS EWIGE – JADEN

Seien Sie bitte nicht irritiert, wenn ich mich zuerst den Netsuke zuwende. Wie bekannt, sind das Gürtelknebel in Japan gewesen, oft äußerst amüsant und meisterlich ausgeführt. Jüngst erschien in unserem Land ein Buch über Netsuke aus einer bestimmten Sammlung. Darin war über “Netsuke aus Jade” zu lesen. Sehr oft genügt ein einziges Wort, um einen Sachverhalt bloßzustellen bzw. das Wissen desjenigen, der das ausgesprochen oder niedergeschrieben hat. Netsuke aus Jade hat es keine gegeben, unzweifelhaft handelte es sich um chinesische Jaden, die in China einen durchaus ähnlichen Verwendungszweck hatten, aber eben keine japanischen Netsuke sind. Nur bestand zwischen den chinesischen “Toggles” – wie man sie zur Unterscheidung nennt – und den japanischen Netsuke ein ganz wichtiger Unterschied, auf den gleich zu kommen ist. Zwischen 1983 und 1998 machten wir jährlich die qualitätsmäßig mit Abstand besten Netsuke-Ausstellungen (und mit Inro, Sagemono etc.) in Kontinentaleuropa, alle mit Katalog. Damals sagte einer betreffend die Vorworte, die ich in diesen vielen Katalogen geschrieben habe, zu mir, “Ihnen fällt auch immer wieder was Neues ein”. Nachdem das hier das bereits soundsovielte Jadevorwort ist, hoffe ich, daß es auch diesmal so ähnlich der Fall sein wird.

Noch kurz zu den “jadenen Netsuke”. Jade war in Japan kein Faktor, es hat bestenfalls  nur sehr vereinzelte Liebhaber gegeben. Beispielsweise kommt in Kodansha’s Enzyklopädie von Japan das Stichwort “Jade” überhaupt nicht vor. Für den Japaner wäre ein Netsuke aus Jade zu schwer gewesen, auch farblich (etwa gegenüber Elfenbein) viel zu wenig auffallend. Der Wert eines Netsuke war hauptsächlich ein praktischer. Chinesen bezeichnen ihre “Netsuke” als “Zhuizi”, international nennt man sie wie gesagt “Toggles” (Knebel). Derartige Arbeiten stammen aus späterer Zeit, vielfach aus der Qing-Dynastie. In unseren Ausstellungen mit archaischen und antiken Jaden kommen derartige “Schnitzwerke” nicht vor, weil es direkt Vergleichbares zu diesen Zeiten nicht gegeben hat. Kurz sei noch auf den angekündigten wichtigen Unterschied eingegangen, der zwischen einem jadenen “Toggle” und einem Netsuke besteht. Jade hatte (und hat) für den Chinesen immer den magisch-mystischen Wert des Talismans bzw. glückbringenden Amulettes, das beginnt bereits mit den ältesten neolithischen Jaden. Jade war immer teuer und kostbar. Billigere Toggles waren aus Holz oder Elfenbein gefertigt. Eine sehr ähnliche Größe und figurale Ausführung wie etwa ein japanisches Netsuke haben jene Jaden, die sich ein Mann in der Hosentasche hält und damit auch immer wieder spielt. Das ist – vor allem bei den älteren und alten Chinesen – bis heute herauf noch Sitte. Ein Bekannter in Hongkong zeigte mir ein jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben, was er gerade für ein Stück in der Hose oder in seiner Rocktasche hatte, manchesmal auch mehrere. Er war so – wie die meisten Chinesen – abergläubisch und glaubte an die Zauberkraft seiner Jade und der Jade an sich. Aber auch in ganz alter Zeit hat es die Amulette gegeben, die man sich genau aus diesem Grund anhing. Nur ist die Ausführung eine doch recht andere gewesen. Natürlich war das innerhalb der Zeitläufte modischen Veränderungen unterlegen. Aber es gibt Motive, die sich Jahrtausende gehalten haben, in ihrer stilistischen Ausführung zwar nicht unverändert, jedoch ist ihr inhaltlicher Kern gleich geblieben, falls das Wissen um dessen Bedeutung noch vorhanden war. Es sei später auf ein Beispiel gekommen, die Zikade.

In unserer jetzigen Ausstellung ist der Anteil an archaischen Jaden besonders hoch. Das Ende der “archaischen Zeit” bildet in China die Han-Dynastie, die bekanntlich recht symmetrisch um die “Zeitenwende” (also das Jahr 0) liegt, von 206 vor bis 220 nach. Nur zwei der Jaden sind nach der Han-Zeit gefertigt. Wir gebrauchen im Katalog das lateinische Wort “ante” für “vor”, um im kulturellen Zusammenhang nicht das wenig passende “vor Chr.”  verwenden zu müssen. “3500 Jahre vor Chr.” – wo bei uns fast nur Urwald war und von irgendeiner kunsthandwerklichen Gefinkeltheit keinerlei Ahnung existiert hat. Das ist ja das kaum Glaubliche und so Erstaunliche, daß in China eine Jadenkunst auferstanden war, die bereits vor über 4000 Jahren solche Stücke wie das expressive Fabelwesen der Nr. 2 (oben ein Ausschnitt) aus der neolithischen Hongshan-Kultur zuwege gebracht haben oder die Cong aus Liangzhu mit ihren Maskengesichtern. Diese gleichfalls neolithische Kultur wurde gerade für die Cong berühmt, und man muß es sich angesehen haben, wie fein zu dieser so frühen Zeit bereits an Einzelheiten einer “Zeichnung” gearbeitet werden konnte. Allerdings diente derlei weniger dem Dekorativen, sondern vermutlich nur dem Magisch-Apotropäischem.

Was genau ein Cong ist (man weiß es bis heute nicht wirklich genau, es ist ein gewisses Rätsel und als ein solches hat es eben auch seine besonderen Reize) können Sie in den Beschreibungen (ab der Nr. 6) oder im Glossar am Katalogende nachlesen. Manchesmal kann es vermittelnd sein, dem Schriftzeichen, das den Begriff für das betreffende Stück bildet,  nachzugehen. Im Fall von Cong (琮) besteht das Zeichen aus 王 und 宗. Das linke Zeichen ist der König bzw. Herrscher (Wang). Fügt man diesem Zeichen ein kleines Strichlein rechts unten hinzu (玉), so bedeutet das Zeichen die Jade. Dieses Strichlein wird aber oft auch weggelassen (siehe auch weiter unten bei der Erklärung des Begriffs “Mundjade”) und der König tritt wieder in den Vordergrund. Da aber Herrscher und Jade eine offensichtlich sehr nahe Beziehung pflegten, weil eben die Jade in der alten Zeit etwas besonders Kostbares gewesen ist, so ergibt das wieder seinen verständlichen Zusammenhang. Auch heißt es, daß im Zeichen für Jade (玉) der König sitzt und das Strichlein unten mit Wohlgefallen betrachtet, weil es ganz einfach eine Jade ist …

 
aCHILONG qing (2)

Der rechte Teil des Zeichens für Cong lautet Zong (sic!) und bedeutet die “Ahnen”. Daß die Cong mit den Ahnen zu tun hatten, war so eine Tatsache, das betraf mehr oder weniger eine jede Grabjade. Der Verstorbene ging doch hinüber ins Jenseitige zu den Reihen der Ahnen, ward einer von ihnen und wirkte nun mit an dem positiven Einfluß aus dem Jenseits hervor auf die von den Ahnen abstammenden Lebenden. Weiß man also über die Cong genau genommen nur wenig, so bezeichnet man sie doch zumeist als “Gegenstücke” zur Bi (璧). Im Zeichen für Bi befindet sich im unteren Teil die Jade. Lassen Sie diese weg, so bedeutet das Zeichen noch immer Bi (auch Pi) und den Kaiser. Aber auch “abwehren”, Schlimmes fernhalten, also ganz im apotropäischen Sinn, damit sind wiederum diese feinsinnigen Zusammenhänge gewoben.

 

Das Kostbare an den Jaden war nicht so sehr die Schwierigkeit, entsprechende Steine aufzufinden, sondern die Umständlichkeit der Bearbeitung aufgrund der Härte. Man stelle sich nur das langwierige Hervorschleifen der vielen kleinen Spiralbuckel auf den Bi-Scheiben vor, ich habe schon über ein halbes Tausend gezählt. Die Exklusivität, die in alten Zeiten der Adel möglichst für sich reserviert hielt, gipfelte in der Ansicht, daß der Träger von Jade ein längeres Leben zu erwarten hatte, weil Jade diese magische Kraft auszustrahlen und einzupflanzen vermochte. Jadestaub aus den entsprechenden Werkstätten wurde teuer verkauft und auch verspeist bzw. eingenommen. Jadewerkstätten dürften damals Zentren von gewisser “Hochtechnologie” gewesen sein, jedenfalls war China in der Technik, solch hartes Material aufwendig fein und sogar durchbrochen bearbeiten zu können, der ganzen Welt weit voraus. Und im totenstillen Reich der Verstorbenen war es nicht anders, in die Gräber wurden die Jaden mitunter wirklich zuhauf getan, damit das “Lange Leben” sich im Jenseits glücklichst fortsetze und niemals ein Ende erfahre.

 

Es ist eine Erstaunlichkeit für sich, daß archaische oder sehr alte Jaden, die aus der Erde geholt wurden und die eine sehr lange Erdlagerungszeit hinter sich hatten, dennoch kaum gravierende Veränderungen erkennen ließen, unter Umständen gar keine. Wir durften das vor vielen Jahren erstmals in Xian (Zentralchina) direkt an den Grabungsorten erleben. Wir sind damals gut bekannt, ja befreundet gewesen mit dem Direktor des Archäologischen Instituts, der auch Mitglied im Volkskongreß war, ein weltoffener Mann und alles andere als ein Apparatschik. Bedauerlicherweise ist er im Vorjahr verstorben. Prof. Han Wei, wie sein Name war, zeigte uns in Xian eine sehr große jadene Bi-Scheibe, die in einem der Kaisergräber der Westlichen Han gefunden worden war. Oder andere Jaden, beispielsweise Zikaden im sogenannten Hanbadao-Stil, wie sich eine ähnliche in der Nr. 40 befindet. Bezüglich “Hanbadao” (漢八刀) und dessen Bedeutung siehe in der Beschreibung unter genannter Nummer. Han Wei (auch seine Frau war stets überaus freundlich) verdankten wir, an mehreren Ausgrabungsstätten, die für Besucher unzugänglich waren, uns eingehend umsehen zu dürfen und uns von den Archäologen über jede Einzelheit erzählen zu lassen. Manchesmal ereignete sich das viele Meter unter der Erde im fast vollkommen Finsteren. Zwei Dinge, die wir erlebten, sind erwähnenswert. Das eine, daß in normalen Gräbern, solchen von durchschnittlichen Bürgern, keine Jaden gefunden wurden, die Beigaben sind in der Regel keramischer Natur gewesen. Solche einfachen Gräber (beispielsweise entdeckt, wenn für Neubauten das Erdreich für die Fundamente abgetragen werden mußte) vermittelten den gewaltigen, ja mitunter gigantischen Unterschied an Aufwand und Größe gegenüber den Anlagen der Kaisergräber, aber auch des hohen Adels und der höchsten Würdenträger, mit ihrem immensen verborgenen Reichtum.

 

Die andere Erfahrung war eigentümlich und hing nur teilweise mit Jade zusammen. Wir zeigten den Archäologen Kataloge von den großen internationalen Auktionshäusern mit Asienkunst, mit nicht wenigen Grabungsfunden aus China, auch Jaden darunter, hauptsächlich aber Bronzen, Keramik und Terrakotta. Die eilig getroffene Beurteilung war “alles nicht echt”, “nachgemacht”. “Und die TL-Analysen?”, fragten wir. “In China kann man das heute genauso nachmachen, die Stücke werden mit Röntgenstrahlen behandelt, dann ergeben die TL-Tests das richtige Ergebnis”. Ein Anruf im Institut für Konservierungstechnik der Universität Wien, das für uns immer wieder TL-Analysen durchführt, rief hörbar ein Lächeln hervor und der Kommentar war “mehr oder weniger Phantasie”. Ich berichte das darum, weil es mit Jaden, die wir hatten, ähnlich ergangen ist. Sie wurden zwar nicht als falsch oder “gefälscht” erklärt, aber man erklärte sich “als nicht in der Lage, dazu einen Kommentar abzugeben”. Offenbar spielte der Neid eine ausschlaggebende Rolle, weiters das Nicht-eingestehen-Mögen der Tatsache, daß aufgrund der seit längster Zeit verbreiteten Korruption sehr viel an Ausgrabungen durch unsichtbar verzweigte Kanäle ins Ausland, in den weltweiten Handel, somit in Auktionshäuser und in Sammlungen gegangen ist. Das ließ sich über Jahrzehnte deutlich nachverfolgen. Sieht man es zeitlich noch weiträumiger, so geht das weit bis ins 19. Jahrhundert der Qing-Dynastie und mehr zurück. Auch sei erwähnt, daß zu bestimmten Zeiten des Hochkommunismus Kunst offiziell mißachtet und in gigantischen Mengen zertrümmert wurde. Das Vernichten von kulturellen Werten sowie traditioneller Identität hat aber bereits mehr als ein Jahrhundert davor im katastrophalen Taiping-Aufstand, der Millionen Opfer forderte, stattgefunden. Wir erinnern uns sehr gut einer Besteigung des Berges Xumishan in der Provinz Gansu. Xumishan ist ein Tempelberg mit sehr vielen Höhlen. Nahezu alles war zusammengehauen und der elefantenförmige Felsberg war wirklich völlig übersäht mit Scherben von zertrümmerten Flaschen, die von den Trinkorgien der Roten Garden stammten. Da kann man nur feststellen, daß es für die chinesische Kunst ein wahres Glück gewesen ist, daß so viel davon in den Westen gekommen ist, denn da wurde sie gehütet und gepflegt (und auch in aller Sorgfalt wissenschaftlich bearbeitet).

Von solch eher widerwärtigen und traurigen Ereignissen sei zu Erfreulichem gewechselt. Das Fabeltier oder Monster der Nr. 2, auch auf dem Umschlag und im Vorwort eingangs abgebildet, stammt aus der neolithischen Kultur von Hongshan (紅山) und ist eine Jade, die von einem großen chinesischen Museum hoch geschätzt wäre, würde nicht diese Mauer gegen das irgendwann einmal ins Ausland Verflüchtigte an authentischer chinesischer Kultur bestehen. Diese Nr. 2 ist äußerst rar, weil sie unverkennbar und eindringlich ein Fabelwesen darstellt.

Ähnliche Motive (zumindest sehr verwandte) unter den Hongshan-Jaden werden gerne und irgendwie stereotyp als “Wolkenmotiv”, aber auch als “Wolken-Vogel-Motiv” (雲鳥形) bezeichnet, auch wenn deutlich Augen, Fangzähne oder Klauen zu erkennen sind. In dem Jadebuch “Symbol of Excellence” (Universität Hongkong)  kann man auf Seite 121 lesen, daß die Interpretation als “Wolken- und Vogelgesicht”  wenig  überzeugend ist und daß es sich eher um die Augen eines Tieres mit “fangs” (englisch für “Fangzähne”) handelt, das von “sich drehenden Formen” (“flanked by curling forms rather than … by clouds”) umgeben oder eingeschlossen ist.  Auch dem kann man nicht völlig zustimmen und weshalb sollte es sich nicht um eine frühe Ausbildung eines drachenartigen Monsters handeln, das sich in den Wolken aufhält bzw. aus diesen hervorlugt. Der Drache muß ja nicht als solcher bereits klar definiert sein. Jedenfalls zeigt unsere Nr. 2, daß es zur Zeit der neolithischen Hongshan-Kultur gesichert die genaue Vorstellung von einer derartigen Kreatur bereits gegeben hat! Auch an ihr ist der Kopf gebildet wie Wolkenspiralen, sind Zähne (Fangs) und Beine ausgeführt, auch wenn die Beine wiederum fast wie Zähne aussehen. Auch der kraftvolle Schweif ist wie eine halbe Wolkenspirale. Die Nr. 2 jedenfalls dokumentiert klar das Guaishou (怪獸), das Fabeltier und Monster und auch die perpetuierliche Vernetzung zu Gewölk bzw. den Wolkenspiralen.

Eine vollauf ähnliche (aber nicht wirklich adäquat so gut erhaltene) Jade wurde im Auktionshaus Christie’s in New York versteigert, der Zuschlag war beträchtlich (siehe in der Anm. nach Nr. 2). In der Beschreibung in dem Auktionskatalog fiel auf, daß diese Jade wiederum nur als ein “toothed pendant” (gezahnter Anhänger) beschrieben war, zwar wurden Augen genannt, aber keinerlei Hinweis auf ein Guaishou, ein Fabelwesen, Monster oder dgl. ausgesprochen. Weiters wurde natürlich die besondere Seltenheit erwähnt sowie ein interessanter Hinweis auf ein etwas größeres Vergleichsstück (11,4 cm) gemacht. Dieses wurde in einem Grab aus der Frühling-Herbst-Periode entdeckt (also viel später, 770 – 476 ante), und zwar bei Fengxiang, gelegen in Shaanxi. In der Nähe dieser kleinen Stadt wären wir übrigens vor eineinhalb Jahrzehnten fast in einer Felslawine umgekommen. Das hatte sich in einer Schlucht ereignet, die danach völlig unpassierbar war und wir mit unserem Wagen nach Fengxiang zurückzufahren hatten. Dort durften wir das übelste Hotel aller Zeiten genießen. Doch wieder zur Jade und dem Vergleichsstück aus dem Grab bei Fengxiang – es bewies, wie man auch alte oder älteste Jaden (wußte man es überhaupt genau?) schätzte und wie sich doch die Kenntnis um bestimmte Formen und gewiß auch die Bedeutungen fortgesetzt hat. Denn die Jade wird vermutlich eine Zeit lang an der Oberfläche, am Licht, unter Lebenden gewesen sein, man hat sie vielleicht bestaunt, genau besehen, ja studiert. Und als Kostbarkeit wird sie dann erneut ihre Reise in die Unterwelt angetreten haben.

Die Nr. 19 aus der Zeit der Westlichen Zhou (ca. 2000 Jahre später) stellt den Drachen völlig in Form einer Wolkenspirale dar. Nun ist bekanntlich die Spirale mit der Bedeutung “Wolke” ein sehr verbreitetes Motiv, auch in der Jadenkunst und in unserer Ausstellung häufig anzutreffen. Die Nr. 3 aus der neolithischen Hongshan-Kultur – ein reizend fein geschliffener Anhänger (bzw. ein Amulett) mit sehr guter Transluzenz – ist ebenso ganz klar eine Wolkenspirale. Aber die Zähne an den Rändern, einige hakenförmig, einige direkt mit denen in der Nr. 2 vergleichbar, was sind sie genau?  Unter den chinesischen “Experten” möglicherweise wiederum nur ein harmloses “Wolken-Motiv” (Yunxing 雲形). Nehmen wir diese Nr. 2 als einen Drachen, der in China “Long” (龍) genannt wird, so läßt sich sehr aufregend über Jahrtausende springen und die Entwicklung des chinesischen Drachen (der doch einige nationale emblematische Bedeutung angenommen hat) verfolgen. Aus der Östlichen Zhou (ab 770 ante) haben wir einige schöne Beispiele zu bieten, etwa die Nr. 24. Dessen Kopf ist noch ganz der eines archaischen Drachen, man nennt sie Kuilong (夔龍). Der Unterkiefer ist massig geformt wie ein Amboß. Dieser Drachentypus wurde etwas später von dem viel lebendigeren Chilong (螭龍) abgelöst, der Kui verschwand, der Chi-Drache hat sich als Dekorform sogar bis in jüngere Zeit halten können. Die unglaublich gut “geschnitzte” (Jade kann man genaugenommen nicht “schnitzen”, sondern sie wird geschliffen) Nr. 43 aus der Ming- bis Qing-Zeit ist ein Sprung (von der Nr. 2 ausgehend) von 4500 Jahren oder sogar etwas mehr. Einen wirklich “Erkennenden”, mit Intellekt wach “Schauenden” erfaßt  angesichts solch einer Tatsache Bestürzung oder eben grimmig aufregende Neugier. Die Drachen auf der Jade Nr. 43 sind ungewöhnlich lebendig gestaltet und verglichen mit dem richtigen “Monster” in Nr. 2 ist klar zu erkennen, daß die Technik der Jadenbearbeitung sehr viel weiter vorangeschritten ist, ebenso das Bedürfnis an Unterhaltung, an ästhetischer Geschmeidigkeit, an Dekor, obwohl der Hintergrund des Mythisch-Mystischen in China nie ganz verschwunden ist, so wie auch der ergiebige Aberglaube. Wendet man diese Jade der Nr. 43, so fühlt man sich momentan in die Han-Zeit zurückversetzt – denn zwei Bi-Scheiben mit den damals so beliebten Spiralbuckeln darauf sehen einem entgegen!

Es muß aber auch bemerkt sein, daß in späterer Zeit in China der bekannte feurige Wolken- oder Himmelsdrache eindeutige Dominanz hatte, es hat ja unzählige sehr wirkungsvoll angelegte Malereien gegeben, die diese Allgewaltigen im düstersten Gewölk auf bizarr-dramatische Weise umherbrausen ließen. Der Drache mitten in den Wolken, sein an die Grenzen des Expressiven getriebener Kopf (Sie wissen – mit den Hörnern, Barteln, züngelnden Flammen, Rauch aus dem aufgerissenen Maul), das erinnert doch einigermaßen – wenn auch entfernt – an die “Fangs” (die Fangzähne), die aus der Wolkenspirale hervorschauen. Genau diesen Effekt hat man Jahrtausende später auf seine sehr eigene Art noch immer zelebriert. In den Jaden der neolithischen Liangzhu-Kultur (良渚 , Nr. 5 bis 9) kommen häufig “Gesichter” vor, sie werden auch als “Monster” bezeichnet. Es werden zwar keine Wolken dargestellt , jedoch scheint es sich um ein überirdisches Geschöpf zu handeln, das uns aus großen Augen entgegenblickt. Manche bezeichneten es auch als “Götteremblem”. Die schöne kleine Arbeit der Nr. 9 – auch eine der besonderen Seltenheiten – bringt dieses seltsame Wesen jedoch mit starrenden Augen und breitem Maul, aus dem Fangzähne abstehen, und nicht nur das. Die Hörner geben der gesamten Form das ganz prägnante Aussehen! Und faßt man das zusammen, so befinden wir uns wieder in Nähe zur Nr. 2 aus Hongshan bzw. zu eben einem Drachen oder was immer für eine Kreatur es definitiv sein soll. Beinahe könnte man unsere Ausstellung als eine über das Motiv des chinesischen Drachen und seiner Entwicklung über die Jahrtausende hinweg benennen, es fehlt leider nur der mächtige Himmelsdrache, der auf dem Gebiet der Jade nur in späten Arbeiten und auch nicht gerade oft vorkommt.

Ein kleiner Teil unserer Jaden stellt Messer oder Beile dar. Alle Stücke dieser Art sind neolithisch bis frühe Bronze-Zeit. Das Beil der Nr. 5 hat eine Wucht für sich, ist äußerst interessant und entsprechend rar, es ist aus der Liangzhu-Zeit. Hier sei nur betont, daß es sich bei diesen Äxten und Messern um keine Werkzeuge bzw. im Gebrauch gewesene Klingen handelt, sondern um reine Rangembleme, um Zeichen der Würde, die ins Grab – eben in der besonders teuren jadenen Ausführung – eingebracht wurden. Warum das so gewesen ist, darüber weiß man auch nicht genauer Bescheid, Tatsache ist, daß es so war. Man kann sich aber leicht vorstellen, daß in der neolithischen Zeit (Jungsteinzeit) eine Axt etwas besonders Kostbares gewesen sein muß, vor allem eine jadene. Es waren ja auch Streitäxte in Verwendung. Die Nr. 11 ist aber beispielsweise ein Gerät gewesen, das für die Ernte verwendet wurde. Wer damals Felder und Bauern besaß, war wohlhabend und ein begüterter Landadeliger. Die Nr. 13 ist auch eine Klinge (ein Zhang), sie hat eine sehr schöne Farbe und eine feine, durchdachte Gestaltung und sie läßt zugleich auf sehr überzeugende Weise die symbolische Bedeutung erkennen und weist formal bereits deutlich in die Richtung der späteren “Würdezepter”. Diese hatten in China ihre eigene Form und wurden Gui (珪) genannt. Sieht man bei Mathews nach, so erklärt er das Gui so: “Eine jadene Tafel (tablet or baton), die vom Kaiser den feudalen Prinzen überreicht wurde, als ein Symbol der Würde und Autorität”. Auch die Nr. 12 hat in dieser Beziehung eine starke symbolische Ausdruckskraft. Nun werden diese drei oben genannten Jaden – 5, 12 und 13 – in gleicher Reihenfolge als Axt (Yue 鉞), Beil (Fu 斧) und Klinge Zhang (璋) bezeichnet. Nimmt man hingegen die Formen solcher Werkzeuge, wie sie bei uns geläufig waren und  sind, dann geraten die Nummern 5, 12 und 13 eher in die Formnähe eine Harke (besonders 13). Obgleich sie – in Richtung des Stiels – nicht eingebogen sind, wie das bei Harken doch weitgehend üblich ist. Das Zhang ist klar, da es aufgrund seiner betont länglichen und an Körper auffällig dünnen Form (und der seitlichen Zähne) definiert ist. Die Unterscheidung zwischen Yue und Fu (es gibt auch noch andere Bezeichnungen, etwa Ben 錛) ist zwar in der chinesischen Terminologie einigermaßen zu unterscheiden, aber auch nicht immer. Und bezogen auf die Formen, die bei uns üblich waren, ist das noch weniger klar.

Sei zum Abschluß noch auf die Zikaden gekommen, die sich auch gegen Ende des Kataloges (Nr. 39, ein Paar, und 40) befinden. Die Zikade (Chan 蟬) ist ein Symbol für den reibungslosen Übergang in die glückseligen Gefilde des Jenseitigen, weshalb man diese Tiere den Toten auf die Zungen legt. Im Begriff “Mundjade” (Hanyu 含玉) hat das Han nichts mit der gleichlautenden Dynastie Han (漢) zu tun. Ja, es gibt sogar ein ganz eigenes Zeichen für die Mundjade (Han 琀) und man kann leicht sehen, daß die obigen Zeichen einfach zusammengetan wurden, nur die Stellung wurde umgedreht, weil das Zeichen für Jade jetzt die Aufgabe eines Radikals übernommen hat. Aber das nur nebenbei. Unser guter Bekannter in Hongkong, der stets eine Jade in einer seiner Gewandtaschen mit sich trägt, hat u. a. auch eine Zikade mit sich. Diese war nicht aus der Han-Zeit, auch nicht im doch recht kantigen Hanbadao-Stil gefertigt, sondern weicher, viel mehr abgerundeter. Ihrer Form und Größe nach eignet sich eine Zikade für einen Handschmeichler sehr gut, so wie beispielsweise auch die Schildkröte. Aber das war – sehr interessanter Weise – sogar vor der Zeit (Han), in der “Hanbadao” Mode ward, sehr ähnlich, wie beispielsweise Funde aus Yinxu belegen. Diese stammen aus der späten Zeit der Shang (somit vor 1100 ante), und können bestens abgerundete, vollauf “Handschmeichlern” ähnliche Zikaden bieten. In Yinxu wurden übrigens mehr als 1000 Grabanlagen entdeckt.

 Es ist doch interessant, daß die Zikade in der späteren archaischen Zeit (und vielleicht auch noch etwas danach) eine Mundjade der Toten war. Diese Gepflogenheit ist dann verschwunden und wurde die Zikade wieder als Jade bearbeitet, dann eben in der weitaus späteren Zeit als Handschmeichler. Wir fragten unseren Bekannten natürlich, was für ihn die Bedeutung dieser Zikade sei und er sagte uns, “daß in ihr die Kraft der Ahnen stecke und sich übertragen könne”. Erstaunlich, wie sich der Kern an hintergründiger Bedeutung über Jahrtausende bewahren kann. In Shanghai trafen wir in diesem Frühjahr auf einen Mann, der in seiner Tasche ein kleines Glas mit sich trug, in dem eine lebende Zikade wohnte. Es war das erste Mal, daß wir in das Gesicht einer ausgewachsenen Zikade so ganz nahe blicken konnten – und es war fast so schön wie das unseres Katers. Der Mann machte es noch konziser, er sagte strahlend, “das ist mein Ahne”.

Im folgenden Teil des Ausstellungskataloges mit den Beschreibungen schreibe ich im Subtitel stets “Jade”. Nun gibt es verschiedene Minerale, die in China unter “Jade” zusammengefaßt werden. Beispielsweise kann es vorkommen, daß in der Hongshan-Kultur Bowenit verwendet wurde, in der von Liangzhu Tremolit usf. Die häufigste Jade ist allerdings der Nephrit, der in China an so manchen Orten gefunden wurde. Kenner schwärmen von der Flußjade. In den Flüssen Chinas wird Erstaunliches gefunden – wir sind einmal zu Gast gewesen bei General Gao in Xining, der uns seine große Steinesammlung (alles aus Flüssen eingesammelt) zu unserer Verwunderung vorführte. Es sind große Jaden verschiedenster Farben darunter gewesen. General Gao hat natürlich seine Soldateska in den Flüssen waten und tauchen lassen. Der Jadeit, der heute in der chinesischen Schmuckindustrie so hoch gepriesen ist, wird erst seit dem 18. Jahrhundert  aus Burma eingeführt. Der Nephrit hat den bedeutenden Vorteil, sehr zäh zu sein und eine besonders große Bandbreite an farblichem Variantenspiel bieten zu können. Das geht von schwarz bis zu weiß und über sämtliche Nuancen von gelbgrünen, dunkelgrünen, blaugrünen, lichtgrünen usf. Tönen, wobei – wie es die Ausstellung sehr gut zeigt – bei archaischen Jaden noch die mineralogische Verwitterung und deren Einfluß aufgrund der Langzeitlagerung hinzukommt. Es sei nur noch darauf verwiesen, daß diese – man lasse ein wenig seine Phantasie spielen – in den einzelnen Fällen sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Jade mag einseitig in der Erde gesteckt haben, die Erde selbst kann verfärbt sein (durch den Leichnam, durch verwittertes Holz, Rost von Eisen, Grünspan von Bronzen usf.), auch wurde gerne roter Zinnober ausgestreut. Die Feuchtigkeit kann sehr unterschiedlich hoch sein. Die Jaden aus der nördlichen Hongshan-Kultur zeigen generell ganz geringe bis fast keine Verwitterung, die aus der südlichen Liangzhu dagegen sehr oft sehr viel, ja gänzliche. Auch damit sich eingehend zu befassen, nämlich sehr genau und allernächst zu schauen, kann fesselnde Einblicke vermitteln und deshalb ein wahres Vergnügen sein!

 

WOLFMAR ZACKEN

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